Venedig (Meyer)
Venedig, einen Winter lebt’ ich dort –
Paläste, Brücken, der Lagune Duft!
Doch hier im harten Licht der Gegenwart
Verdämmert mälig mir die Märchenwelt.
Ein Frevel! Jenen doch vergaß ich nicht,
Wo über einem Sturm von Armen sich
Die Jungfrau feurig in die Himmel hebt,
So wenig als den andern Tizian –
Am Quai, dem nächt’gen, der Slavonen war’s.
Im Dunkel stand ich. Fenster schimmerten.
Zwei dürft’ge Frauen kamen hergerannt.
Hart an die Scheibe preßt’ das junge Weib
Das sie erstarren machte, weiß ich nicht.
(Vielleicht den Herzgeliebten, welcher sie
An eines andern Weibes Brust verrieth.)
Ich aber sah den feinsten Mädchenkopf
Die Mutter führte weg die Schwankende . . .
Die beiden Tiziane blieben mir
Stets gegenwärtig; löschen sie, so lischt
Die Göttin vor dem armend Menschenkind.