Völkerpfingsten
Völkerpfingsten.
Der Winter kam vom Nord geschritten
Durch Wald und Wiese, Flur und Forst,
Und unter seinen eh’rnen Tritten
Der frostdurchzogne Boden borst.
Gewohnt durch Berg und Thal zu gehn,
Es mußt’ vor seinem Odemzuge
Das Blut der Erde stille stehn.
Des Lebens Pulse mußten stocken;
Und schimmernd fielen weiße Flocken
Auf’s Leichenangesicht der Welt.
Da hob der Frühlingssturm die Flügel,
Und jedes Herz war froh gestimmt;
Der harten Hand des Winters nimmt,
Daß er zerbricht, was dürr geworden,
Und Raum dem Trieb, dem jungen, bringt,
Daß er in brausenden Accorden
Die Welle brach des Eises Schranken
Und sprudelt’ schäumend himmelan
Und trug den hohen Lenzgedanken
Vom Fels bis zu dem Ocean.
Die Welt im Maienschmucke steht!
Die Morgenröthe ist gesunken
Als Rose in des Gartens Beet,
Und wenn die Sterne leise wallen
Dann singen noch die Nachtigallen
Die süßen Lieder fort im Traum,
Und alle diese Wunderwonne,
Die singt und klingt und blüht und sprießt,
Die auf die Welt die Strahlen gießt. –
Ihr Völker in der weiten Runde,
Wer ist’s, der’s uns verkünden mag:
Wann bricht nach mancher trüben Stunde
Der Knechtschaft Winter wußt’ zu biegen
In’s Joch euch mit der eis’gen Faust,
Und heulend kam in blut’gen Kriegen
Ein Frühlingssturm herangebraust.
Möcht’ nun das Herz im Sonnenschein –
O ew’ger Gott, wann soll auf Erden
Denn endlich Völkerpfingsten sein? –
Ihr braucht die Sterne nicht zu fragen
Es kann’s euch jede Blume sagen:
Das Leben ist allein im Licht.
Ihr schaut vergebens nur nach oben,
So lang ihr euch im Traum behagt,
Der Purpurmäntel Schleppen tragt.
Die Freiheit wird ihr eigner Henker
Bei einem Volk, bethört vom Wahn;
Nur einer Welt der freien Denker
Das Licht in’s Volk! Von allen Zinnen
Gepredigt wider jeden Trug,
Der gerne möcht’ die Welt umspinnen,
Wie er sie einst in Bande schlug!
Des Geists gebraucht in stolzer Kraft,
Daß es, entwöhnt von Joch und Zügel,
Sich selbst die bessre Zukunft schafft! –
Zu einem Bunde fest zusammen,
So wahr der Sonne Strahlen flammen,
Es kommt der Völker Pfingstenzeit.
- ↑ Aus dessen „Neuen Gedichten“ (vierte Auflage, Leipzig, Ernst Keil).