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Titel: Vögel im Winter
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aus: Die Gartenlaube, Heft 47, S. 642–644
Herausgeber: Ferdinand Stolle
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Erscheinungsdatum: 1856
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Vögel im Winter.

Während wir unsere Pelze und Winterkleider hervorsuchen, ziehen sich die Bäume und Blumen aus und halten ihre nackten Glieder kaltblütig dem beißenden Winter hin. Die entkleideten Zweige, Stengel und Aeste hüllen sich in Schlaf, in Todtenschlummer, in Reifröcke und Schneepelze. Da können sie’s wohl aushalten, bis der Frühling wieder Leben bläst und die inzwischen verrotteten Blätter und Blumen durch neubelebte Adern und Stämme zur Auferstehung in den Baumkronen wieder in die Höhe treibt. Aber was [643] fangen die singenden Blätter, die beschwingten Blumen, die Vögel, während des Winters an? Wie jubilirte und zwitscherte und flatterte der Wald, der Garten an sonnigen, warmen, duftigen Junimorgen! Und wie traurig schweigt es jetzt zwischen den nackten, öden Zweigen, aus denen hier und da ein enthülltes Nest schutzlos im Wind und Wetter schwankt! Wo sind die kleinen piependen Gelbschnäbel, die einst zwischen grünen Blättern so neugierig und freßgierig der Mutter und dem Vater entgegenschnappten, hingekommen? Und die fleißigen, zärtlichen Eltern dazu? Wir wissen wohl, viele Vögel ziehen davon und sehen niemals den Winter mit seinen nackten Bäumen und seinem Barte von Eiszapfen. Aber die meisten müssen doch zu Hause bleiben, da sie keine Mittel zum Reisen haben. Wie bringen sie den Winter hinter sich, ohne Winterkleider, ohne Vorrathskeller, ohne Holz und Torf und Öfen? So schlimm ist’s gar nicht, daß sie ohne Schutz vor Kälte, ohne Speisekammer sich durchhelfen müßten. Sie haben gar mannigfaltige Futtermagazine und gehen außerdem wärmer angezogen, als mancher Geheimerath mit seinen Gichtstiefeln.

Außerdem schlafen viele zwei Dritttheile des Winters hindurch, da es doch nichts Gescheidtes für sie zu thun gibt, wobei sie nicht so viel Stärkung brauchen, als im Juni, wo sie täglich 16 bis 18 Stunden ununterbrochen auf den Beinen und Schwingen sind und für sich und eine zahlreiche Nachkommenschaft zu sorgen haben. Was ihre Art, sich während des Winters durchzufressen, betrifft, gibt es kaum eine größere Genialität unter den Menschen. Mit ihren kleinen, runden, scharfen, blitzschnellen Augen und ihren klugen, spitzigen Schnäbeln finden sie aus tausenderlei versteckten Winkeln und scheinbar ungenießbaren Dingen auf tausenderlei Weise Frühstück, Mittag- und Abendbrot. Es würde uns Stunden und Bogen kosten, nur aufzuzählen, was sie Alles finden und fressen unter den verwelkten und verwitterten Blättern eines einzigen Baumes. Nun und wie viel Bäume und Blätter und geborstene Pflanzenstengel gibt es in jedem Flugkreise eines Vogels? Seine Speisekammer ist meilengroß und die Delikatessen darin so versteckt, daß nur er sie auffindet und Menschen und Thiere im größten Hunger vorbeigehen, ohne ihm etwas wegzunehmen. Unter sammetnen, auch im Winter grünen Moosen, in den Ritzen rauher Baumrinden, in den Höhlen und Löchern alter Bäume, zwischen verwitterten, pfeifenden Gräsern und Unkräutern, in Tausenden, in Millionen kleinen Samenkörnchen, die der eisige Nord aus vertrockneten Kapseln, als Säemann des künftigen Frühlings umherstreut, an verlorenen und vergessenen wilden Früchten, überall in Wald und Feld, so verlassen und verhungert sie scheinen, finden die kleinen, muntern Sänger von Flur und Feld ihre besetzten Tafeln. Und was die Schlafstelle betrifft, machen sie sich selbst zum warmen Bett, und mit Schnabel und Köpfchen unter dem Flügel, ras’t der durchdringendste Ost machtlos über ihr warmes Federbett hin und läßt sie ruhig, gesund und warm schlafen lange, lange Januarnächte hindurch, wenn der Schnee unter dem fernab seufzenden Wagenrade des verspäteten Fuhrmanns quiekt, wie eine Heerde Ferkel im Sacke. Die Blumen des Sommers, lange todt und verlassen von den Bienen, welche ihren Honig aus den thaugebogenen, blüthenstaubvergoldeten Kelchen sogen, füllten sich hernach mit Saaten, die der nebelige Herbst reifte und der Wind barst und umherstreute zum Bankett für die nicht verwelkten, beschwingten, singenden Blumen. Wenn der ganze Gesichtskreis und alle Landschaft umher mit starrem, weißem Schnee bedeckt kein Leben mehr zu dulden scheint und nicht einmal der starke Huf durch die gefrorne Decke bricht, finden die Vögel noch ihren Weg und ihre Waaren zwischen Busch und Dornen und picken umher zwischen Farrn und Flechten, durchsuchen Holzstöße und Getreideschober, hohle Baumwurzeln, die noch schwarz aus dem Schneetuche hervorragen, Gräben und Abhänge mit schneelosen Stellen, dichtes Unterholz, auf welchem der Schnee ein Dach bildete, und den sie zum Theil wegflattern von dünnen Zweigen, so daß sie noch die letzten Hagebutten und „Mehlfäßchen“ aufstöbern und sich ihr Brot davon backen. Wird’s gar zu arg und mager draußen, legen auch die wildesten, menschenscheuesten Vögel ihre Furcht vor des Menschen Haus und Hof ab und gucken in die Scheune hinein, wo der staubige Drescher sie nicht beachtet, und nehmen ihm, oft mit der größten Keckheit, aber äußerst schlau, gute fette Körner dicht vor der Nase weg. Sie hüpfen und picken zwischen Stroh und auf Düngerhaufen, zwischen Kühen und Gänsen umher, umzingeln die Hühner, wenn sie gefüttert werden und nehmen Alles mit hexereiartiger Geschwindigkeit in Beschlag, was in den weiteren Umkreis sich verliert. Dann machen sie Attacken mitten unter den Füßen des grimmigen Hahnes hinweg in den Bereich der fleißigen Schnäbel, vor jedem Korne, das sie auf’s Korn nehmen, erst genau recognoscirend, ob auch die nächste Henne mit einem neidischen Seitenhiebe ihres Schnabels nicht Einspruch thun könne. Das geht Alles so blitzschnell, daß man nicht so geschwind sehen kann, als sie die Lage jedes Kornes erst genau berechnen und jedes momentan unbeschützte sofort wegpicken, in demselben Augenblicke schon wieder ein anderes ausmessend und richtig im richtigen Augenblicke treffend, so daß Hahn und Hühner, die manchmal mit einem ärgerlichen Zanktone nach ihnen hacken, immer daneben treffen. Und wo haben nicht überall auf der Schneedecke Pferde oder Hunde oder andere Thiere gefressen oder nicht bis auf die letzten Ingredienzen verdauten Unrath gelassen? Da findet sich allemal noch eine Mahlzeit mit verschiedenen Gängen für die Vögel.

Zu dem Gemüse und den Mehlspeisen werden auch Fleisch und Braten angeschafft. Millionen von Schmetterlingen und Insekten haben Eier und Junge in Cocons gesponnen und nach ihrer Weise gut versteckt, aber die kleinen Blitzaugen des Vogels wissen überall solche kleine Eier- und Fleischmärkte auszuspioniren und mit der größten Geschwindigkeit auszuräumen: eine wahre Wohlthat für die Blätter und Sprossen des künftigen Frühlings, die im Keime radikal aufgefressen werden würden, wenn die Vögel nicht ihre Eier- und Fleischspeisen aus diesen unerschöpflichen Quellen des Ungeziefers bezögen.

Die kleine Meise stöbert zwischen Strohdächern und altem Reisig nach Insekten umher, die sich in deren warmen, schützenden Labyrinthen begruben. Wir sehen sie hängen und gestikuliren rückwärts und mit dem Kopfe nach Unten, wie einen gymnastischen Künstler, an Halmen reißend und zerrend, und ihn Zoll für Zoll mit der größten Genauigkeit untersuchend, um die entdeckte winterschläfrige Beute blitzschnell wegzupicken und zu verschlucken. Der stelzende Wackelschwanz, die Bachstelze, marschirt gleich einem Grenadier auf der Parade, ganz gegen die Art der hüpfenden und hopsenden andern Vögel an Flußufern u. s. w. umher, um jedes Atom und Körnchen, das andere Geschöpfe für schlechterdings ungenießbar halten würden, ihrem kleinen Straußenmagen zu überwachen, damit er versuche, was für Alimente sich daraus destilliren lassen. Auch folgt sie dem Wagen, dem Reiter meilenweit auf seinem gefrornen Wege, bis einmal etwas für sie abfällt. Was es auch sei, etwas Genießbares für sie ist immer dazwischen. Amsel und Drossel, diese Schneeglöckchen unter den Vögeln, die schon singen und pfeifen, wenn der erste Thauwind bläst, und wieder in ihre Wildniß ziehen, suchen sich während des Winters mit Menschen zu vertragen, und frequentiren deren Gärten und Höfe und halten sich ohne Komplimente für hoffähig. Sie rauschen zu unserem Schrecken oft plötzlich auf mit ihren lärmenden Flügeln zwischen Schuppen und Scheunen, Karren und Wagen, und machen sich aus dem Staube, bis wir gegangen sind, und purren dann zurück in die bewohnten Regionen, wo sie sich ihre Mahlzeiten zusammenschnurren. Manche Delikatesse pickt jetzt die wilde Holztaube aus den Herzen des Wintergrüns und aus Kohlköpfen, deren zarteste Keime sie aussucht. Dies machen sich Jäger zu Nutze, welche das zarteste Gemüse zu ihrem Fleisch aus deren und anderer Vögel Magen nehmen. Lerchen jeder Art findet man jetzt überall als Räuber beschäftigt, besonders auf herbstbestellten Getreidefeldern, so lange es irgend geht. An Getreidespeichern arbeiten sie oft gesellschaftlich, wie verbündete Einbrecher und Diebe. Das „Weißkehlchen“ ist eine der größten Plagen des Landmanns und seiner Saaten und Wintervorräthe. Eine Heerde dieser Art Lerchen reißt das Dach eines Getreideschobers oder selbst einer altersschwachen Strohscheune im Nu auseinander, und dringt mit eben so viel Fleiß als Lärm und Geschicklichkeit in die Aehrenköpfe der Garben, statt, wie die Sperlinge, sich an einzelnen Aehren zu begnügen, und ab- und zuzufliegen. Der so entstehende Schaden ist aber noch das Wenigste. Der durch ihre Breschen eindringende Regen verdirbt oft später ganze Getreidespeicher und durchnäßt sie durch und durch. Die Lerche des Himmels, die im Sommer Arien von Engeln auffängt und sie der Erde vorsingt, erweist sich im Winter sehr irdisch, gefräßig und räuberisch. Sie sticht und schlägt sich sogar mit andern Mitbrüdern, wenn diese nicht gutwillig von kärglichen Funden abgeben wollen.

Der niedlichste, kleinste Zwerg unserer Vogelstaaten, der Zaunkönig mit goldener Kammkrone, im fettesten Zustande kaum 80 Gran [644] schwer, so daß man ihn auch für einfaches Porto im Briefe versenden könnte, weiß sich gleichwohl durch die härtesten Winter hindurchzuschlüpfen. Man wundert sich, wie so ein befiedertes Bischen den Grausamkeiten des Januars begegnen könne. Aber beobachte ihn nur in Wald und Feld: es gibt keinen munterern Burschen in der ganzen Welt. Er hält sich schon durch diese ewige quecksilberige Beweglichkeit warm und wohlig, und ehe dieses Quecksilber gefriert, müßte man bis in die arktischen Regionen gehen. In dieser Sekunde pickt er an einem Tannenzapfen, in der nächsten ist er verschwunden und wird in derselben wieder sichtbar, wenigstens hörbar ein paar hundert Schritte weiter in grünem Epheu, vielleicht um sich grünen Sommererinnerungen hinzugeben; aber sofort scheinen und flattern seine kleinen Fittige wieder hoch oben und weit weg an den äußersten Spitzen von Zweigen, an denen noch Reste von Beeren und dergleichen sich verbargen. So geht es den ganzen Tag flink und frisch durch die eisigste Kälte hindurch, ohne daß er jemals Miene macht, als ob er’s etwas kalt fände. Es fällt ihm immer etwas ein, um sich die Zeit zu vertreiben und die nöthige Bewegung zu machen. Seine Arbeitszeit fällt in die warme Periode, während welcher er eine Menge kleine Kinderchen zu erziehen hat. Naturalisten haben behauptet, daß er während dieser Zeit, jeden Tag 16 bis 18 Stunden lang, 36 Reisen jede Stunde mache, die man 30 bis 40 geographische Meilen täglich schätzen müsse.

Der eigentliche Held des Winters ist aber unser Rothkehlchen, das dem nebeligen Herbste und unsern Jungensjahren eine gar duftige, von Sprenkeln und schwarzen Fliederbeeren erfüllte Erinnerung gibt. In England ist das Rothkehlchen Held einer der beliebtesten und verbreitetsten Kindermährchen, das seit Jahrhunderten in keiner Kinderstube fehlt. Das tapfere „Schnickern“ im herbstlichsten Walde mit gelben, im Winde flatternden Blättern – welch’ ein poetisches Bild! Und wie rührend lernt der „Hahn“ singen in der stillen, dumpfigen Bauernstube des Winters! In Deutschland wandert das Rothkelchen aus, aber in England bleibt es den ganzen Winter, und zieht umher vor den Fenstern, wie die alten Sänger, und ersingt sich Brosamen aus zarten Kinderhänden, und singt dafür tapfer sein Pensum ab, wie auch der Wind in seinen Federn zause, so daß man meinen sollte, daß sie nie wieder in Ordnung zu bringen wären. Es ist die Nachtigall des Winters. Es singt, wenn Alles schweigt, trotzig gegen den Sturm, der mit seinen tödtlichen Lauten allein herrschen will. Es ist so beliebt und populär, wie die Gänseblume des Frühlings und der Schnee im Winter, der ihm ein Recht gibt auf die Mildthätigkeit der Menschen, wofür es aber mit tapferm, frischem Gesänge reichlich lohnt.

Welche Massen von Vögeln müssen sich bei uns durchwintern, wenn die Zugvogel längst ihre Sommer oder vielmehr Winterwohnungen in weiter Ferne bezogen und die Erde mit eisigen Thoren hermetisch verschlossen ist? Wir haben angedeutet, wie es einige anfangen, um durchzukommen, aber damit können wir die unzähligen andern nicht füttern. Wie machen die’s? Sie finden Nahrung in Dingen, die wir noch gar nicht als verdaulich und nährend kennen, aus denen aber der Magen des Vogels mit seiner Lunge, die viel kräftiger athmet und wärmt und eingeführte Stoffe ausbrennt, als wir es mit dem ordentlichen Magen fertig kriegen, noch Nahrung zu ziehen weiß. Wir kennen durchaus noch nicht die Ernährungsfähigkeit aller Körper und Kompositionen der Erde. Wie aus sehr tief aufgegrabenem Lande neue Blumen aufwachsen, wie man sie vorher nie in dieser Gegend sah, so birgt sich in jedem Spaten voll Erde auch Nahrung für schärfer sehende und schärfer mit Verdauungskraft ausgestattete Thiere. Der Strauß versucht sogar, aus verschlungenen Eisenstückchen (einmal sogar aus einer sehr struppigen Schuhbürste, ein anderes Mal aus einem Hobel mit dem Eisen darin) noch etwas zu machen. Er verdaut, was kein Dampfhammer klein kriegt. Man kennt viele Vögel, die Sand und Steine als substantielle Zuthaten zu ihren feineren Speisen ohne Nachtheil in Masse verschlingen, und die chemische Analyse hat in Vogeleingeweiden schon aufgelöste Nahrungssäfte entdeckt, die sich nur auf mineralische Substanzen, auf Erden und Steine, zurückführen ließen. So liegt’s am Ende blos an unserm schwachen Magen, wenn uns Kieselsteine nicht recht bekommen. Humboldt entdeckte in Südamerika eine Sorte Menschen, die den Winter hindurch größtentheils von Lehm- und Thonkugeln schmausen, ohne sich den Magen dabei zu verderben oder sehr mager zu werden. Wenn aber die Vögel, die nicht säen und ernten und nichts in die Scheunen sammeln, so gut durch den Winter kamen, ist’s ein wahrer Skandal für uns Menschen und deren hochweise Einrichtungen und deren gierige Sorgen um Brot und Reichthum, daß so viele hungern und frieren müssen. Manche mögen wohl selbst Schuld sein, öfter liegt’s aber just an den „weisen Einrichtungen“ und väterlichen Fürsorgen.