Ueber ein morgenländisches Drama

Textdaten
Autor: Johann Gottfried Herder
Illustrator: {{{ILLUSTRATOR}}}
Titel: Ueber ein morgenländisches Drama
Untertitel:
aus: Zerstreute Blätter (Vierte Sammlung) S. 263-312
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1792
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
Drucker: {{{DRUCKER}}}
Erscheinungsort: Gotha
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Google und Commons
Kurzbeschreibung:
Eintrag in der GND: {{{GND}}}
Bild
Bearbeitungsstand
fertig
Fertig! Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle Korrektur gelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Um eine Seite zu bearbeiten, brauchst du nur auf die entsprechende [Seitenzahl] zu klicken. Weitere Informationen findest du hier: Hilfe
Indexseite


[263]
VI.
Ueber ein
morgenländisches Drama.
––––––
Einige Briefe.
––––
[264]

Willt du die Blüthe des frühen, die Früchte des späteren Jahres,
     Willt du was reizt und entzückt, willt du was sättigt und nährt,
Willt du den Himmel, die Erde mit Einem Namen begreifen -
     Nenn’ ich Sakontala Dich, und so ist alles gesagt.


Goethe.
[265]
Erster Brief.
______


Sind Sie auch des Glaubens, daß kein morgenländisches Volk ein eigentliches Drama gehabt habe; eine Behauptung, der man viele Ursachen unterzulegen wußte, so werden Sie wohl diesem Glauben absagen müssen, wenn ich Ihnen ein morgenländisches Schauspiel, unter allen Schauspielen der Welt eins der ersten seiner Art, anzeige. „Doch nicht ein Tsinesisches? etwa eine Schwester jenes Waisenkindes, das Voltaire in Französischer Kleidung auf seine Bühne brachte? Eins aus jenen vierzig Bänden der Tsinesischen besten Schauspiele, die du Halde anführet und um die sich von Europa [266] aus Niemand weiter bekümmern mochte? Nichts aus diesem Lande. Sakontala heißt mein Drama: ein Indisches Schauspiel, von Kalidas gedichtet, von W. Jones herbeigeschafft, und ins Englische, aus dieser Sprache von G. Forster ins Deutsche so gut übersetzt, daß es sich fast besser als das Englische Original lieset. a)[1] Säumen Sie nicht zum Genuß dieser unerwarteten Blume zu gelangen; eine schwache Zeichnung derselben, bei der ich mit Bedacht mehr verschweige als darlege, soll nichts als die Lust dazu in Ihnen vermehren.


Duschmanta, Kaiser von Indien, ein Zweig aus dem Geschlechte des berühmten Puru, verfolgt auf der Jagd eine Gazelle: der Wagenführer redet ihn an und schildert ihn wie ein Grieche [267] den jagenden Apollo schildern würde; die Flucht des Wildes, die Schnelle des Wagens sind in wenigen Zügen so anschaulich gemacht, daß man sofort vor dem Gemählde des Orts und der Handlung stehet. „Sie darf nicht getödtet werden, ruft eine Stimme; diese Antilope, o König, hat in unserm Walde ihren Zufluchtsort!“ Alsobald hält der Wagen: ein Einsiedler flehet den König für die Sicherheit des heiligen Waldes an. Edel gehorcht der Fürst, und der Einsiedler ladet ihn ein in diese geweihete Freistäte, in der die Pflegetochter eines verehrten Bramanen, in dessen Abwesenheit, Gastfreundschaft übe. Duschmanta nimmt die Einladung an, bemerkt die Zeichen des Heiligthums rings umher, steigt ab vom Wagen, legt seinen Königsschmuck ab, und betritt den ehrwürdigen Hain mit einer glücklichen, ihm selbst wundersamen Ahndung. Welch ein schöner Eingang zur ganzen Begebenheit dieses Drama! Leise und höchst natürlich wird nicht nur Sakontala [268] angekündigt, sondern ihr auch im Gemüth des Lesers die heilige Sicherheit vorbereitet, die zu allem was folgt, ihr Schirm seyn muß: denn wenn in diesem Haine das gejagte Reh seine Freistäte findet, wie sollte Die eines solchen Schutzes nicht genießen, die als ein Kind des Himmels in diesem Haine erzogen, in ihm als eine unerkannte, vom Hofe weit entfernte Blume blühet?


Sakontala mit ihren zwo Gespielinnen erscheint, und entzückt des Königs Auge. Die Zarte pflegt der Blumen, nicht nur auf ihres Vaters Geheiß, sondern aus schwesterlicher Neigung. Tief ist das Gefühl, das, dies ganze Stück hindurch, insonderheit in weiblichen Seelen sich gegen die blühende Schöpfung äußert, und Sakontala ist gleichsam die Königin dieses Mitgefühles. Liebliche Reden sinds, die ihre Freundinnen ihr über ihr Geschäft und über sie selbst sagen. Eben finden sie in ihrer geliebtesten Blume ein Vorbedeutung [269] ihres nahen Glücks, einer frohen Vermählung, und liebkosen ihr auf die unschuldigste Weise. Aber ein summende Biene fährt aus der Mallika-Blume, und will nicht von ihr lassen. So wird auch im Kleinsten die zukünftige Handlung nicht nur vorbedeutet, sondern wirksam eingeleitet. Denn eben diese ganze Scene, in welcher Sakontala sich unschuldig und liebenswürdig zeigt, wird von Duschmanta behorcht. Liebetrunken hangt sein Auge an ihr, und sein Gemüth quälet sich mit dem einzigen Zweifel, ob dies süße Geschöpf als eine Bramanentochter ihm auch versagt seyn möchte. Endlich tritt er hervor, und es beginnt eine Scene der Gastfreundschaft, der bescheidensten Wohlanständigkeit und einer paradiesischen Unschuld. Immer mehr wird Duschmanta von Liebe durchdrungen, und da es sich in der Kunstlosesten Unterredung gleichsam von selbst entwickelt, daß sie nicht des Bramanen, sondern des berühmten Königs Nausika Tochter, Tochter einer Nymphe des [270] niedern Himmels sei: so findet er den Wunsch seines Herzens erfüllet; er entdeckt sich durch seinen Ring, und da ein Geschrei über die Nähe eines wütenden Elephanten die Unterredung trennet, bleibet er zurück im Seufzen der Liebe. Ferne sei es von mir, alle Auftritte so zu durchgehen; lesen Sie, und Sie werden in diesen ersten Scenen alle Symptome der Liebe von der leisesten Sehnsucht an, durch alle schüchterne Zweifel und Hoffnungen, bis zum Zutrauen, bis zur Gewißheit; ja was die Liebe Zartes, selbst Buhlendes und Tändelndes hat, werden Sie in jedem Grade des Lichtes und Schattens, jungfräulich und königlich, bald ausgedrückt, bald nur mit einem Hauche berührt, finden. Duschmanta und Sakontala sind nach der ältesten, heiligsten Weise Gandarwa durch Wort und Gelübde auf ewig verbunden.


Aber nun schlinget sich der Knote. Bei dem [271] Abzuge des Königes erschallen Trauerstimmen: die Freundinnen der Sakontala werden besorgt: wir hören, daß ein böser Gast auf sie, unwissend ihr selbst, einen wilden Fluch gelegt habe, der auf der Freundin Bitte zwar gemildert, aber nicht widerrufen worden. Kanna, ihr Pflegevater, ist wieder gekommen, Er, der wie ein höherer Geist aus einer höheren Ordnung der Dinge handelt. Hier hört mein Auszug auf; lesen Sie, wie er Sakontala zu ihrer Abreise bereitet, wie er ihren Abschied den Nymphen kund thut und diese antworten; wie sie selbst Abschied nimmt von den Pflanzen, von ihrem geliebten Madhawi-Strauch und dem Rehchen. Lesen sie die Lehren, die Kanna ihr und ihrem Führer ins Gemüth legt; und nun die Katastrophe ihrer Aufnahme. Bemerken Sie, durch welche Vorbereitungen das Licht, in dem der König hiebei erscheinen muß, gemildert und gerichtet werde, wie Sakontala sich, wie sich ihr Führer, wie der Priester, wie sich der [272] König selbst betragen. Die Katastrophe rückt fort; der Knote wird zusammengezogen. Nach der höchsten Beleidigung, die einem unschuldigen Wesen zugefügt werden konnte, werden Sie alle Quaalen der Reue, der Liebe, des endlosen Schmerzes, der nahe an die Verzweiflung reicht, geschildert und ausgedruckt finden. Geben sie dabei auf jeden Zug acht; keiner ist müssig, selbst nicht die der Erinnerung wiederkommende Biene. Und dann sehen Sie, wie aus der tiefsten Tiefe der Führer des Götterwagens den Leidenden hervorholt, durch angeflammte eigene Thätigkeit ihn wieder zum Mann, zum Könige, zum Gehülfen der Götter macht und ihn königlich und göttlich lohnet. Kein Wort von mir zerstöre Ihre Freude, sich mit Duschmanta auf dem Wagen Matali’s, und dann unerwartet an einem Orte zu finden, der das Ziel der menschlichen Phantasie zu seyn scheinet. Werfen Sie also mein Blatt weg, und lesen das Buch; aber nicht Europäisch d. i. um etwa [273] nur den Ausgang zu wissen, mit flüchtiger Neugierde, sondern Indisch, mit feinaufmerkender Ueberlegung, Ruhe und Sorgfalt; sodann wünsche ich darüber Ihre Gedanken.


Zweiter Brief.
________


Ist es möglich, daß Sie an der Aechtheit der Sakontala anders zweifeln können, als sofern man etwa aus Zartheit des Gemüths an einem unerwarteten Gute, das vor uns ist, gleichsam liebend-ungläubig zweifelt? Der Dichter Kalidas möge gelebt haben, wenn er wollte; ein Europäer war dieser Dichter Kalidas nicht: darüber dörfen Sie Ihrem Herzen und Ihrer prüfenden Ueberlegung trauen.

Welch ein weiter Gesichtskreis herrscht in diesem Werk! ein Gesichtskreis über Himmel und [274] Erde. Welch eine eigne Art alles anzuschauen! Götter und Geister, Könige und Hofleute, Einsiedler, Bramanen, Pflanzen, Weiber, Kinder, alle Elemente der Erde. Und wie tief ist alles aus der Philosophie und Religion, der Lebensweise und den Sitten der Indier nach ihrem Klima, ihren Geschlechterabtheilungen und sonstigen Verhältnissen geschöpft, ja in diese verwebet. So äffet man nicht nach, auch wenn man das System und die Lebensart der Indier auf allen Fingern herzusagen wüßte. Ueberdem ist die Zeit, in welche dies Stück gehört, auch für Indien nicht die heutige Zeit; die Sitten, die darinn herrschen, sind nicht die heutigen Sitten. Das Band, das Götter und Menschen, die sichtbare und unsichtbare Welt knüpft, ist so sonderbar geflochten, das wir es der Denkart unsres Zeitalters nach, zwar anstaunen und erklären, schwerlich aber erfinden und als eigne Schöpfung darstellen könnten. Führen Sie mir nicht den Mac-Pherson mit seinem Ossian, oder den unglücklichen Chatterton [275] mit seinem Rowley an; Dinge, die keine Vergleichung leiden. Mac-Pherson hat seinen Ossian nicht erfunden, und dem Rowley des kühnen Jünglinges sahe man seinen Ursprung eben so leicht an, als man ihn mancher morgenländischen Geschichte ansiehet, die uns die Englischen Wochenblätter als Einkleidung vortrugen. Wer aber, mit Indischer Genauigkeit und Bedeutungsvoller Zartheit, eine Sakontala erdichten könnte, der wäre mir der grosse Apollo, oder der Indische Krishnu selbst in wiedererscheinender Wunderschönheit. Das Fremde selbst ist dem Stück ein Siegel der Aechtheit; „wunderbar, unglaublich sogar, sagte jener Kirchenvater, aber eben deßhalb ists wahr.“

Unglaublich, schreibe ich; aber nur dem mythischen Inhalt nach unglaublich; was die Aechtheit des Stückes betrift, ist nichts glaubwürdiger, als die Art, wie es zu uns gelanget. Lesen Sie nochmals die Vorrede Jones, und bemerken wie unschuldig er nur zur Nachfrage nach Indischen [276] Schauspielen, die er selbst nicht zu finden glaubte, gekommen sei. Sehen Sie die Rechenschaft an, die er von seiner Uebersetzung giebt, „wie er dies Stück zuerst Wort für Wort ins Lateinische gebracht, wie er es darauf wieder wörtlich ins Englische übersetzt, und zuletzt, ohne irgend einen wesentlichen Ausdruck ab- oder hinzuzuthun, seiner Uebersetzung nur die fremdartige Steifigkeit benommen und die Arbeit für das Publikum als ein authentisches Bild der alten Hinduischen Sitten vollendet habe.“ Nun ist ja von Herrn Jones sowohl seine Geschicklichkeit, als Treue und Sorgfalt aus andern Uebersetzungen gnugsam bekannt: sein Commentar über die morgenländische Dichtkunst enthält derselben mehrere aus Arabischen und Persischen Dichtern, bei denen es noch niemanden eingefallen ist, an seiner Redlichkeit zu zweifeln. Seine Uebersetzung vom Leben Nadir-Schachs liegt vor uns, und in den Schriften der Bengalischen Gesellschaft hat er als Präsident derselben für die Treue und Aechtheit der mitgetheilten [277] Alterthümer auf eine Art gesorgt, wie mir sonst kein Beispiel bekannt ist. Sie dörfen, um sich hievon zu überzeugen, nur seine kurzen Anmerkungen zu einer von Wilkins übersetzten Steinschrift, seine Vorlesungen an die Gesellschaft, ja auch nur die fernere Vorrede zur Sakontala lesen. Unbefangen giebt er Anzeige, was er von dem Drama der Indier weiß, nennt die besten Stücke, die ihm genannt sind, und spricht von den Schauspielen der Indier nicht anders, als er von ihren heiligen, juristischen, medicinischen, moralischen, philosophischen Büchern spricht, in seinem Amt, als Vorsteher einer Gesellschaft, die er in Bekanntmachung dieser Schätze zum Wetteifer mit andern Nationen anmuntert. Jederzeit hat Herr Jones seine eignen Nachbildungen von dem was er wörtlich übersetzte, treu unterschieden, wovon Sie in seinem Buch über die morgenländische Dichtkunst sowohl, als in seinem eigenen Gedichten den klaren Beweis finden können; nie hat er z. B. seine Hymnen auf einige [278] Indische Gottheiten, oder andre Gedichte solcher Art für Urkunden der Völker ausgegeben, aus denen er seine poetische Begriffe zog, welches denn auch seine Poesie selbst; die im höchsten Grade Englische ist, zeiget. Wo finden Sie nun in der Sakontala den Englischen Schnitt, den sonst diese Nation nie verleugnet? Sie führen die Scene der Fischer, die den Ring bringen, und den lustigen Mohawyaan, und nennen sie Shakespearisch; aber was ist Shakespearisch? Ist es die Natur selbst; so shakespearisiret diese in Indien sowohl, als in England, so daß ich gerade im Gegentheil diese Scenen im höchsten Grade Indisch nennen möchte. Nichts überhaupt, m. Fr., verführt mehr als dergleichen Zweifelei, wir mögen sie bei Griechen, Römern, oder Indiern anbringen; sie verstopft den Geist und giebt dem Geschmack zuletzt eine falsche, kleinliche Richtung.

Um hierüber auf einmal in den Glanz des Mittages zu treten, müssen Sie die anderweit bekanntgemachte urkundlichen Schriften der Indier, [279] oder wenigstens die unzweifelhaften Nachrichten von diesen Schriften lesen, worüber ich Ihnen am Rande nur Eine Abhandlung bemerke. b)[2] Wenn Sie diesen ungeheuren Vorrath Indischer Literatur zu Bildung der Sprache sowohl als zum Anbau der verschiedensten Zweige des menschlichen Wissens mit Erstaunen bemerken, wird es Ihnen unerhört scheinen, daß ein so Bücherreiches Volk auch Schauspiele gehabt habe? Werden Sie nicht vielmehr mit mir wünschen, daß statt ihrer unendlichen Religionsbücher der Weda’s, Upaweda’s, Upanga’s u. f. man uns mit nützlichern und angenehmern Schriften der Indier, vor allen mit ihren besten Poesien in jeder Art beschenke? Diese machen uns den Geist und Charakter des Volks am meisten lebendig, wie ich denn gern bekenne, aus der einzigen Sakontala mehr [280] wahre und lebendige Begriffe von der Denkart der Indier erlangt zu haben, als aus allen ihren Upnekats und Bagawedams. Freilich müßten aus ihren ungeheuern Epischen Gedichten nur Stücke gezogen werden, aus ihrer Sammlung von Poesien für die niedern Stämme, (Saitia oder Kawija-Sastra,) nicht minder: denn warum wollen wir uns nicht gerne zur niedern Classe der Sudra’s gesellen, wenn die Schriften, die sie auch über Theile der Naturwissenschaft und das bürgerliche Leben besitzen, lehrreicher und unterhaltender sind, als die ewigen Büßungslehren und Göttergeschichten der Bramanen? Die leichten Poesien der Indier lobt Herr Jones sehr, gewiß ein gültiger Richter; so auch ihr feines System der Musik und vieles andre. Die ältesten und schönsten Fabeln sind bekannter Maassen Indischen Ursprungs, und der feine Mährchengeist des Volks zeigt sich in seiner Mythologie gnugsam. Daneben ist die metaphysische und moralische [281] Speculation bei ihnen bis zum höchsten Grade getrieben, so daß wenn jedes dieser Felder mit gehöriger Oekonomie und einer fortgehenden Rücksicht, was für uns Europäer merkwürdig und interessant sei, bearbeitet würde, eine Ernte vielleicht ganz unerwarteter Producte zu hoffen wäre. Sehr ungern las ich also, daß Herr Jones, außer dem Gesetzbuch des Menu, künftigen Uebersetzungen so gut als absagt; ich hoffe aber dennoch, daß der Genius seiner Natur wider seinen Willen in ihn zurückkehren, und wenn er mehrere Stücke wie Sakontala findet, sie jenen Eifer in ihm neu aufwecken werden, der ihn bisher über die Literatur der Araber, Perser, Indier so wirksam gemacht hat. Wie? einen Mann von seinen Talenten, von seiner vielumfassenden Sprachkunde, seiner Lust und Liebe zur Erweiterung der Wissenschaft und zum Ruhme hätte das Glück dahin gestellet, wo Er stehet, und Er könnte, auch bei andern Rücksichten, seiner edeln Natur entsagen? [282] Das Blatt ist zu Ende. Haben Sie noch mehrere Zweifel: so entdecken Sie mir solche unverholen.


Dritter Brief.
________


Worüber, wie Sie glaubten, ich lachen würde, das hatte ich bei der Sakontala selbst gethan; ich hatte sie nehmlich aus Scherz und im Ernst mit Aristoteles Poëtik verglichen und zu bemerken gesucht, ob Kalidas, der hundert Jahr vor Christo gelebt haben soll, den Aristoteles recht beherzigt, oder Aristoteles auf Kalidas gehörige Rücksicht genommen habe. Im Ernst, m. Fr. halte ich eine solche Prüfung nützlich: denn obgleich das Drama aller jetzigen Völker in Europa, so gut als völlig ohne den Aristoteles entstanden ist, mithin wir an ihnen unabhängige Puncte der Vergleichung gnug haben: so war es mir, weil doch Eins dieser [283] Theater vom andern geborgt hat und alle mehr oder minder in Bekanntschaft mit einander gewesen, sehr angenehm, ein in seiner Art vollkommenes Stück eines ganz fremden Theaters zu erblicken, um dasselbe dem Regelmaas des Aristoteles zu nähern. Je mehrere freie Puncte der Vergleichung wir haben, desto leichter wird uns die Auflösung der Frage: „was in Aristoteles Dichtkunst blos Lokal-Geschmack oder allgemeines, ewiges Gesetz sey?“ ein Problem, das, wie ich glaube, noch nie rein aufgelöset worden. Denn ob Lessing gleich seinen Aristoteles gegen die Anmaassungen mehrerer Französischen Kritiker und Dichter in Schutz genommen, und die Rechtmässigkeit seiner Foderungen gründlich gerettet hat: so ist solches doch, meines Wissens, gegen andre Dramatische Dichter z. B. der Engländer und Spanier noch nicht geschehen, und doch bin ich überzeugt, daß bei jeder scharfen Zusammenhaltung und Prüfung die Wahrheit, auf welcher [284] Seite sie auch liege, ansehnlich gewinnen würde. Versuchen wirs also mit unserm Indier!


„Wie aber? Aristoteles Regeln betreffen kein Drama überhaupt, sondern nur seine Gattungen, das Trauer- und Lustspiel?“ Dies kann uns nicht hindern; lassen Sie uns das Wesentliche beider Gattungen betrachten, und es wird sich der Hauptbegriff schon finden.


Das Trauerspiel ist dem griechischen Weltweisen die Nachahmung einer ernsthaften, vollständigen, eine Größe habenden Handlung, die nicht vermittelst des Mitleids und der Furcht, diese und dergleichen Leidenschaften reinigt.


Also die Nachahmung einer Handlung. Diese nennet Aristoteles die Fabel, d. i. eine Verknüpfung der Begebenheiten des Drama, vergleicht sie mit der Zeichnung in den bildenden Künsten, [285] und giebt ihr in der dramatischen Kunst mit allem Recht die oberste Stelle. Er will, daß diese Handlung ernsthaft, sodann vollständig sei, d. i. Anfang, Mittel und Ende, zugleich auch eine Größe habe, welches letzte Erforderniß er abermals mit vieler Vernunft erkläret. Ueber alles dies ist bei der Sakontala kein Streit: in ihr ist Handlung d. i. Verknüpfung der Begebenheiten zu Einem Endzweck von Anfange bis zu Ende. Die Handlung ist ernsthaft, vollständig, sie hat eine Größe; und da Aristoteles selbst sagt, daß diese sich nicht durch Regeln bestimmen lasse, sondern nach der Aufmerksamkeit der Zuschauer eingerichtet werden müsse: so können wirs dem Dichter Kalidas zutrauen, daß er diese für seine Zuschauer werde eingerichtet haben. Denn überhaupt verändert sich bei Dramatischen Stücken dies Maas der Größe nach Umständen, Gegenden, Zeiten. Uns dünkt zu lang, was unsern Vorfahren nicht also dünkte: ein mittelmäßiges [286] Französisches Trauerspiel dauert uns Deutschen länger, als das längste Stück von Shakespear: oft wird uns in der Vorstellung lang, was uns im Lesen sehr kurz ist, oft umgekehrter Weise. Kurz, ein Dramatisches Stück sei ein Ganzes von Anfange bis zu Ende, belebt in allen seinen Theilen und Gliedern zu seinem dramatischen Endzweck: so hat es sein Maas, seine Größe in sich. Sakontala ist ein solches Ganze, das keinen Theil zu viel oder zu wenig hat, und den Indiern, die daran Interesse fanden, gewiß übersehbar, ja im höchsten Grad befriedigend seyn mußte. Die Fabel rollet sich aufs eigenste ab; höchst einfach, ohne Episoden fortgeführt, lässet sie sich Zeit, und doch eilt sie mit jedem Wort, mit jedem neuen Begegniß zu Ende.


Nicht andere Bewandniß scheints mit dem andern Theil der Aristotelischen Erklärung des Trauerspiels zu haben, in Scenen, welche dahin gehören: denn wenn dies Drama durch Mitleiden [287] und Furcht, wirken soll; kann es eine zartere, und zugleich lebhaftere Theilnehmung geben, als die wir gegen Sakontala in allen ihren Begegnissen fühlen? Aber auch gegen Duschmanta? Hier, m. Fr. verwirret sich der Faden der Theorie, den wir nicht zerrreissen, sondern gemach entwickeln wollen: denn eben dadurch wird vielleicht der Unterschied Orients und Griechenlandes sichtbar.


Duschmanta hat den Wald, und in ihm seine geliebte Sakontala verlassen, ohne die er nicht leben zu können glaubt, die er als seine Vermählte in wenigen Tagen abzuholen versprochen. Er holet sie nicht; ein böser Fluch ist auf sie gefallen, daß ihr Gemahl sie vergessen, daß er sie nicht anerkennen werde, bis er den ihr zurückgelassenen Ring erblickt; und unglücklicher Weise mußte sie auch diesen verlieren. Sakontala weiß von diesem Verhängnisse nichts; Duschmanta eben so wenig; beide leiden also unverschuldet. Glauben wir dieses nun ganz und rein, wie es der Dichter will [288] und es wahrscheinlich die Indier glaubten: so hat Duschmanta eben so viel Anrecht an unser Mitleid als Sakontala selbst; und der Dichter hat gewiß nichts versäumt, ihm dieses zu erwerben. Aeußerst hat er den König geschont und geehret; das Versprechen, Sakontala abzuholen, ist nicht vor unsern Augen geschehen, und ehe sie ankommt, erblicken wir ihn unter den edelsten Beschäftigungen seines königlichen Amtes. Sie steht vor ihm; er kennet sie nicht: durch Macht des Schicksals ist Wald und Alles aus seinem Gedächtnisse verschwunden; alle seine Mühe, eine Spur davon in seiner Seele aufzufinden, ist vergeblich. Selbst da die Götter sie weggerückt haben, schreibt ers der Zauberei zu. Aber der Ring wird gefunden; auf einmal fällt der Nebel von seiner Seele, und er ist im entsetzlichsten Zustande. Kein Vergnügen, selbst keine seiner edeln Königsverrichtungen, die Götter allein können ihn daraus reissen. Der Dichter rechnete darauf, daß wir dies alles, wie er es uns vorstellt, glauben sollten; Aristoteles aber rechnete [289] darauf nicht. Er will, daß auf der Bühne alles natürlich geschehen, und sich in Einem fortgehenden Faden aus der menschlichen Seele selbst entwickeln sollte. Die Maschienen des Wunderbaren erlaubt er nur ausserhalb der Handlung; ein Theil von dieser müßten sie nie werden: denn in ihr müsse jede Begebenheit aus der andern natürlich folgen. So dachte Aristoteles; der Indische Dichter konnte nicht so denken; oder sein Held ward abscheulich; selbst Sakontala konnte sodann, auch nach allen ausgestandenen Quaalen der Reue, ihm zwar vergeben, nie aber ihn mehr mit ihrer ersten Liebe lieben. Weislich läßt Kalidas also die magische Decke der Vergessenheit über den König fallen, und legt vom Anfange des Stücks alles darauf an, um uns in diese Reihe von Begebenheiten einer höheren Ordnung einzuführen. Nicht nur sind Geister allenthalben mit im Spiele; sondern ehe der König in den Wald tritt, ist Kanna schon abwesend, um ein über seine Pflegetochter Sakontala hangendes [290] böses Schicksal von ihr zu entfernen. Sein Wunsch wird ihm durch die feierliche Verkündigung gewährt, daß aus ihrem Schoos ein Götterkind, ein Beherrscher Indiens entspringen werde; und nun ist er über jedes zwischenliegende Hinderniß, wie ein höherer Geist, hinwegsehend-ruhig. Dem Ausspruch der Götter gemäß giebt er an Sakontala und ihren Begleiter Befehle; und läßt das Verhängniß walten. Der Grieche foderte eine in jedem Theil natürliche Entwicklung der Begebenheiten; der Indier legte es von Anfange bis zu Ende auf einen heiligen, göttlichen, wunderbaren Zusammenhang derselben an, weßhalb man, wenn man sein Werk nicht Drama in griechischem Verstande nennen will, man es ein dramatisirtes Epos, nennen müßte, eine heilige Götter- und Königsfabel in allen Reiz der Vorstellung gekleidet.

Auf welcher Seite die schärfere Vernunft sei, darüber ist wohl kein Zweifel; eben der schärfere [291] Gebrauch der Vernunft ists, der die Europäer über alle Völker der Welt, die im Reiche der Phantasie leben, so hoch erhoben, und sie so überlegen wirksam gemacht hat. Der Griechische Weise legt es auch bei der Poesie aufs Lernen an, und findet das Grundgesetz seiner vorstellenden Künste, die Nachahmung, nur deßhalb so angenehm, „weil nicht nur die Weltweisen sondern auch andre Menschen gerne lernen, gern ihr Erkenntniß vermehren.“ Je zusammenhängender und natürlicher sich nun Begebenheit, Charaktere und Leidenschaften entwickeln, desto reicheren und reineren Stoff der Erkenntniß gewähret das Drama; daher er auch seinem Trauerspiel den philosophischen Endzweck geben konnte, „durch Furcht und Mitleid eine Reinigung der Leidenschaften zu bewirken.“ Ein so hohes Ziel hatte das Indische Drama nicht. „Wozu eine lange Rede? sagt der Theater-Director, als Prologus der Sakontala; „Wenn Sie mit Ihrem Putz fertig sind, Madame, so belieben Sie nur zum [292] Vorschein zu kommen. – In sofern ein erleuchtetes Publikum von unsern theatralischen Talenten Vergnügen empfängt und ausdrückt, in sofern und nicht weiter setze ich auf diese Talente einen Werth.“ Die Schauspielerin giebt ihm Recht: sie setzt die Seele der Zuschauer durch Gesang in die Stimmung, die fürs Theater gehöret, und der entscheidende Ring fängt vor dem Beschützer aller frohen Künste und seiner erlesenen Versammlung an zu spielen. So unaristotelisch dies vom Theaterdirector gedacht scheinet: so hat es dennoch seine wahre Seite. Vergnügen ist immer der nächste Zweck aller frohen Künste, und das unentbehrliche Mittel zu jedem höheren Endzweck. Gefällt ein Stück nicht, unterhält es nicht durchaus unsre Seelenkräfte: so mag man in ihm weder lernen, noch seine Leidenschaften reinigen. Nun hat aber insonderheit das Wunderbare bei jedem Volk sein eigenes Maas als Ingrediens zum Gefallen, zur Täuschung. Auch die Griechen konnten dessen nicht [293] entbehren, und Aristoteles selbst hat deßhalb ausdrücklich ein Gebot gestellet: „In der Tragödie muß man das Wunderbare gebrauchen: denn das Wunderbare ist süß, obwohl das Unvernünftige (d. i. was nicht klar aus der Vernunft folgt) eigentlich der Epopee gehöret;“ da denn alles zuletzt Theils auf die Materie, Theils auf die Macht des Dichters, Theils auf die Nation und das Zeitalter ankommt, für welche das Drama spielet. Was Einem Volk, Einer Zeit unglaublich ist, ists der andern nicht, bei welcher sodann das Wunderbare vielmehr die Seelenkräfte der Zuschauenden erhöhet, ihre Aufmerksamkeit stärkt und ihr Vergnügen, wie ein berauschender Göttertrank, bis zum höchsten Grade vollendet. So scheint es mir mit diesem und vielleicht mit mehreren Indischen Stücken gewesen zu seyn, weil die Hindu’s in diesem Element lebten. Ihr König, der Stammvater aller Könige ihres Reichs, (des ersten Reiches der Erde in ihrer Meinung,) reichte dicht an die Region der Götter; [294] auch die Stammmutter derselben mußte also daher entsprungen seyn, und nur der entscheidende Ring des Schicksals konnte sie beide vermählt haben. In dieser Region ward das Wunderbarste natürlich.

Wollen Sie sich, m. Fr., hievon überzeugen, so lesen Sie nur wenige Seiten im Bagavadam. Auf allen Blättern desselben sind Geister und Menschen, Götter und Könige nur Ein Reich, Eine Schöpfung; insonderheit gelten die Gebete, und Verwünschungen der Einsiedler und Weisen als unwiderrufliche Aussprüche des Schicksals.c)[3] Ja findet sich nicht bei allen Nationen ein früheres Zeitalter der Unschuld, wo Götter mit Menschen lebten, Engel Patriarchen besuchten? Da ist der Begriff der Ueberirrdischen noch nicht so hoch erhöhet, daß nicht eine Nymphe sich zur Umarmung [295] eines Helden herablassen, daß nicht ein Held dem Könige der Geister zu Hülfe kommen, ein Sterblicher auf Indra’s Thron sitzen, auf seinem Wagen fahren, die höchste Götter des Sternenraums sehen und von ihnen den Segen empfangen könnte. Da mischen sich Geister ins Glück und Unglück der Menschen, und Menschen von der erhabensten Andacht und Betrachtung wohnen zunächst am Fuße des höchsten irrdischen Paradieses. Schöner, weiter Raum der Phantasie! Ausser ihm würden wir in der Sakontala jene Chöre der Waldnymphen nicht gehört, den Wagen des Luftkreises nicht bestiegen, und das vertrauliche Gespräch des ältesten Ehepaares der Welt im Paradiese der seligen Geister nicht belauscht haben. Der Idyllengeist der ersten, der höchste Epische Geist der letzt Scenen dieses Drama wäre von der Erde verbannt gewesen, und sie gehören gewiß zum Ersten ihrer Art, was je der menschliche Geist hervorbrachte. [296] Glauben Sie auch nicht, m. Fr., daß das Wunderbare schlechthin die Belehrung aufhebe; es macht dieselbe nur angenehmer, indem hinter seinem Geheimnißreichen Schleier der Verstand gleichsam verstohlen und desto freiwilliger sich selbst belehret. Fragen Sie sich, ob nicht, als Sakontala höchst unschuldig nach der Weise Gandarwa des Königes Vermählte ward, Sie sich selbst fürchtend gesagt haben: „Blume der Unschuld, das sollest Du nicht thun! Du sollest deinen Vater Kanna erwarten.“ Oder wenn Sie, Zutrauensvoll wie Sakontala, damals noch nicht fürchteten, ob Ihnen nicht wenigstens in der entsetzlichen Scene, da der König sie ganz und gar verkennet, mithin sie und das Kind unter ihrem Herzen aufs höchste kränket, da sie, eine Königinn, die rechtmäßige Gemahlin Duschmanta’s, von ihrem Ringe, von jedem andern Beweise, von Göttern und Menschen verlassen, in der niedrigsten Gestalt dasteht, ob Ihnen nicht, damals [297] wenigstens, die Lehre fürchterlich ins Ohr geklungen habe: „Traue keinem verliebten Könige, wäre es auch ein edler Duschmanta; unter dem Zauberstabe der Zeit und der Entfernung, unter Chören Lobpreisender Sänger, und im Taumelkreise des Hofes verlieren sie ihr Gedächtnis.“

Gewiß müssen Sie es auch gefühlt haben, wie eben das Wunderbare der vorausgesetzten Verblendung die stärkste Wirkung des tragischen Schreckens und Mitleidens hervortreibt, indem der verblendete König aus Unwissenheit, ja in der Meinung, daß er auf seinem heiligen Sitz sehr rein und edel handle, da er sich auch keinen Blick auf die Sakontala erlaubet, ein Verbrechen begeht, das er nachher so schwer büßen muß, ja ohne Zwischenkunft der Götter nie und nimmer abbüßen würde. Lesen Sie, was Aristoteles von solchen Scenen (Kap. 14.) sagt, und sie werden die Wirkung des Wunderbaren hier sehr dramatisch finden. Es ist ein Knote, der Auflösung eines [298] Gottes werth, weil Götter ihn selbst geknüpft haben: Sakontala wird entrückt, (wir wissen nicht wohin?) aber wir sahen für sie keinen andern Ausweg. Auch ists der Götter werth, daß Duschmanta, nachdem er unter dem Rausche ihrer Verblendung so lange gelitten hat, durch sie aus der tiefsten Tiefe emporgezogen werde.

Ihnen, m. Fr., hat die Scene unwürdig gedünket, in welcher Matali unsichtbar den Freund des Königs peinigt; aber wer ist dieser Freund des Königes, dieser weise Bramane? Doch immer ein halber, nur ein feinerer Hofnarr, als einst die Hofbeamten dieser Art in Europa waren. Dem Könige sagt er zuweilen die Wahrheit, gerade hier aber sagte er sie ihm nicht, als dieser, nach dem gewöhnlichen Lauf der Dinge, die größeste Ungerechtigkeit beging, und die Sakontala verläugnete. Mohawya war mit im Walde gewesen, und Er stand nicht unter dem Zauber der Verblendung. Hinter dem, was der König gelitten [299] hat, dünkt michs also die billigste Strafe, daß sein Freund auch etwas leide und für sein Schweigen jetzt aus den Lüften seiner Stimme erhebe. Da überdem die Thätigkeit des Königes, der seinem Freunde beispringt, zuerst durch diesen Aufruf geweckt wird, bis sie ihre höhere Bestimmung findet: so steht auch als Uebergang dieser lustige Auftritt sehr an Ort und Stelle. Das Drama verfolgt seine Handlung und die darinn verflochtenen Charaktere, wo es sie findet, und in allen Nüancen: Wald und Hof, Komisches und Tragisches ist in ihm; es erstreckt sich über Himmel und Erde.

Unvermerkt sind wir also zur Hauptfrage gelanget: „wie sich Sakontala überhaupt als Drama zu Aristoteles Begriffen von der theatralischen Poesie verhalte, und zu welcher Gattung derselben es gehöre? Ist es ein Trauer- ein Lust- oder ein sogenanntes Mischspiel?“ Ich antworte kurz: ein Episches Drama.

[300] Alle sind wir darüber einig, m. Fr., daß das eigentliche Local- und Zeitmäßige der Griechischen Schaubühne kein Gesetz für alle Orte und Zeiten der Welt seyn möge. Denn da wir wissen, daß das Theater der Griechen nur aus dem Chor entstanden sei, und sich daraus gleichsam zergliedert habe, daß eben dieses Chors wegen die Einheit des Orts, die Kürze der Zeit, das Einfache der Handlung in ihm gegeben und vorausgesetzt war; (widrigenfalls sich beide auf ewig hätten scheiden müssen:) so darf niemand Zweifel erregen, ob, wo kein Griechischer Chor, kein Griechischer Markt oder Pallast statt findet, irgend Eine der Beschränkungen statt finden müsse, an welche unter andern Umständen auch bei den Griechen gar nicht gedacht wäre. Zusammenhang der Theile also, Einheit, Fortgang und Interesse der Handlung ist die Seele des Drama; keine kleinliche Rücksicht auf Ort und Zeit, von der auch Aristoteles sehr entfernt war. Selbst der einfachen [301] Fabel redet dieser nichts weniger, als das Wort; die zusammengesetzte oder verwickelte Handlung nennt er die vorzüglichere, wie sie es ihm denn auch ihrem Wesen und ihrer Wirkung nach seyn mußte.

Den Griechen war, wie bekannt, Ein Theaterstück gewöhnlich zu kurz; sie spielten mehrere nach einander. Den Römern war die griechische Komödie zu einfach; ihre Theater-Dichter, die von den Griechen borgten, mußten also aus mehreren Stücken ein Ganzes zusammenheften. Alle Europäischen Nationen endlich brachten ihrer Natur gemäß, Begebenheiten ganz ohne griechischen Zuschnitt auf die Bühne, und geriethen sogar, wenn sie an Aristoteles dachten oder die Griechen nachahmen wollten, größtentheils auf seltsame Misverständnisse, Schein-Abfindungen und Complimente. Woher dies alles? weil der äußere Zuschnitt des griechischen Theaters uns fremd ist und bleiben wird, indem wir an seinem gottesdienstlichen [302] oder republikanischen Chor durchaus keinen Antheil haben. Alle Begebenheiten der Bühne sind uns Begebenheiten der Welt; unser Gesichtskreis ist erweitert, unsere Theilnehmung zwar gewiß nicht Urtheilvoller, feiner, tiefer, als sie es bei den besten Griechen gewesen seyn mochte, aber Bedingungsloser und gleichsam unumschränkter. Daher die Form der alten Spanischen und Englischen Stücke; daher auch die Form dieses Indischen Drama.

Hat Aristoteles diese Form nicht gekannt? ist sie etwa, wofür man sie oft hat ausgeben wollen, eine neuere Erfindung? Er kannte sie wohl; steuert aber, wie er kann, dagegen, und sucht das Drama seiner Nation in den Kunstschranken zweier unvermischten Gattungen, des Trauer- und Lustspiels zu erhalten. „Nach den Regeln der Kunst, sagt er, sind Trauerspiele, worinn das Glück in Unglück verwandelt wird, die schönsten. Die Fabeln von einer doppelten [303] Zusammensetzung, die sich durch einen entgegengesetzten Glückswechsel der Tugend- und Lasterhaften enden, sind minder schön, und es ist nur der Schwachheit der Zuschauer zuzuschreiben, wenn man ihnen den ersten Platz zueignet:“ denn nicht fürs Trauer- sondern fürs Lustspiel, meint er, schicke es sich, daß die ärgsten Feinde zuletzt als Freunde aus einander gehen. Deßgleichen ist er sehr dagegen, daß man das Drama zu einer Epopee verlängere, oder eine Epopee mit ihren Episoden auf die Bühne bringe, u. f.

Die Ursache, warum Aristoteles so strenge abschloß, erhellet von selbst: denn mit dieser Verlängerung und Vermischung des Drama ging nothwendig die Schärfe seines ganzen Kunstbegriffs verlohren. Die verlängerte Senne erschlaffte; das zum Epos erweiterte Drama konnte nicht mehr so unverwandt auf jene Leidenschaften der Furcht und des Mitleids, oder beim Lustspiel aufs Lächerliche ausgehn, es mischten [304] sich viele und vielerlei Empfindungen durch einander, und zuletzt artete alles in jene schlaffe philanthropische Mitempfindung, oder in jene kalte Passivität der Unterhaltung aus, die eigentlich eine Pest der Dramatischen Kunst ist. Es wäre viel zu weitläuftig, hier untersuchen zu wollen, wiefern dieses bey allen Nationen eingetroffen sei, die statt der Trauer- und Lustspiele Mährchen, Gemählde des bürgerlichen Lebens, oder Abentheuer auf der Bühne geliebt haben, und noch lieben. Ohne Zweifel war die Bühne nur ein Nachklang ihrer Empfindungs- und Denkweise auch außer dem Theater; ihre Dichter gingen der Geschichte, der leichteren Unterhaltung nach, und das wahre dramatische Kunstgefühl der Griechen blieb manchem Volk ganz fremde. Welchen Platz man einst den Indiern, wenn mehrere ihrer Stücke bekannt sind, unter den Theaterliebhabern anweisen werde, mag die Zeit entscheiden; gnug, daß dies erste Stück, das wir von ihnen kennen, ob es [305] gleich nur ein dramatisches Epos ist, in allen wesentlichen Theilen aufs nächste und feinste an die griechische Kunst grenzet. Um zwei Personen, Sakontala und Duschmanta, windet und schlinget sich alles; die höchste Mannichfaltigkeit ruhet auf der simpelsten Einheit.

Noch hätte ich von den Charakteren und Farben des Stücks Einiges zu sagen. Jene sind, nach Indischer Art, nicht scharf aber auch nicht unbedeutend, und jeder in seinem Grad idealisch gezeichnet. Sakontala ist alles, was eine Indische Blume des Reizes, der Zucht und Tugend seyn kann; sie verdient ihren hohen Rang durch ihre lange Prüfung, ihr spätes Glück durch ein lange ertragenes Unglück. Duschmanta ist die Summe aller Indischen Weltbeherrscher in gepriesenen Tugenden und den von ihrer Würde unabtrennlichen Fehlern. Kanna ist das Ideal eines Heiligen und Weisen, in unmittelbarem Zusammenhange mit der Gottheit. Die Göttinn [306] Aditi will ihm von den letzten glücklichen Ereignissen Nachricht senden; aber ihr Gemahl spricht: „durch die Kraft der wahren Gottesfurcht wird der ganze Auftritt dem Gemüthe Kanna’s gegenwärtig seyn!“ Er sinnet nach, und sendet ihm mit seinen Gottes-Gedanken unmittelbare Botschaft; kann etwas Erhabeneres gedacht werden? Der Sohn der Sakontala und des Duschmanta ist wunderschön, kindisch und prinzlich geschildert; flos iuuentutis in principe, princeps iuuentutis. Die Anerkennung des Vaters ist hier so rührend-schön, wie dort das Verkennen der Mutter rührend schrecklich war; nach der Weise Gandarwa (der seligen Geister,) waren sie im Haine der Jugend vermählt, ins Paradies der Gandarwa ward die bei Hofe verkannte Sakontala gerettet, und da finden sie sich, Duschmanta nach vielen Büssungen und Verdiensten, endlich wieder; das seligste Ehepaar, der Gott des Lichts mit der Göttin des Tages, Eltern der zwölf Sternenbilder [307] des unermeßlichen Himmels, erneuen ihre Verbindung. Höher konnte die Abkunft der Beherrscher Indiens nicht gefeiert werden, und wie dürftig mag die Tradition gewesen seyn, auf die der Dichter baute, die er so hoch idealisirte! d)[4]

Die Farben des Drama in der Diction, in Gleichnissen und Bildern sind die zartesten und prächtigsten, wie sie nur Jenes Klima mit seinem Naturreichthum hervorbringen konnte. Selbst Griechenland scheinet arm dagegen, noch mehr


[308 (Vorlage fehlt!)]

[309 (Vorlage fehlt!)]  Rama’s Erscheinung.[5]

<poem>Ueber den Wolken schwebte, von Flügeln der Weste getragen,      Dessen Wagen, dem rings Alles auf Erden gehorcht. Und leichtfertig lachte der Gott des murmelnden Meeres,      Dem er mit Einem Wink Fluthen und Ruhe gebeut. Ihn zu beschatten stieg aus glänzenden Wellen der Mond auf;      Und die Nachtigall sang ihm ein willkommendes Lied. Goldene Bienen flogen voran, die Boten der Liebe;      Jungfraun, schmachtenden Blicks, scherzten und buhlten um ihn.

[310]

Sei mir gegrüsset, o Gott! Du hast die Holde bezwungen,
     Die mit dem schüchternen Blick einer Gazelle bezwang,
Ihre Schwanengestalt, wie die glänzende Sambagomblume
     seiden; die Lippe zart, wie der Tamarei Kelch,
Süßen Hauches; die Nachtigall schweigt der lieblichen Stimme –
     Die, o gewaltiger Gott, hast du im Scherze besiegt.
Wie die Maligra-Blume der Morgenröthe sich aufthut,
     thun sich, blickst du sie an, zärtere Seelen dir auf.



[311]  Tamajandri.


O wer schildert Tamajandri’s Reize,
Brama’s Meisterwerk! In Millionen Jahren
hatte schaffend sich der Gott geübet,
und aus aller Herzensfeßlerinnen
feinsten Reizen schuf er Tamajandri.

     Kama und die Anmuth, seine Gattinn,
legten, als sie die Gestalt erblickten,
Ihre Götterkränz’ ihr an den Busen.
Da erhoben sich der Wohllust Hügel,
rund, wie Wilwamfrüchte, leise wallend
wie der Ton der seufzendsüßen Laute.

     Fünf der Pfeile trägt der Gott der Liebe;
Drei davon verschoß er in den Himmel,

[312]

auf die Erd’ und in des Abgrunds Reiche.
Die zwei übrigen, o Tamajandri,
barg der Gott in deine holden Augen.




  1. a) Sakontala oder der entscheidende Ring, ein Indisches Schauspiel von Kalidas, übersetzt von G. Forster. Mainz und Leipz. 1791.
  2. b) On the Literature of the Hindous;in den Asiat. Researches Vol. I. p. 340. seq. Die Dänischen Missionsberichte, und viele Reisende bestätigen diese Anzeige in einzelnen Datis.
  3. c) Die Geschichte des Königes Parikschitu, die einen grossen Theil des Bagavadam ausmacht, ist, wie Sakontala ganz darauf gebauet. S. Sammlung Asiatischer Originalschriften, Th. I. Zürich 1790.
  4. d) Der Bagewadem sagt nichts von dieser Geschichte, als: „Nelens Sohn war Duschtanden. Auf der Jagd beschlief dieser die Sugundelei; sie brachte den Sorudeminen zur Welt, den der Vater auf die Versicherung des Agassatani für den Seinigen erkannte. Dieses Kind hieß Baraden und von ihm stammt eure Familie ab. (Sugen nämlich spricht zum Könige Parikschitu.) „Baraden war einer der berühmtesten Eroberer, er unterwarf sich alle Könige der Welt.“ Dies ist das Kind, das in der Sakontala mit dem jungen Löwen spielet.
  5. Rama, der Gott der Liebe.