Ueber die Seelenwandrung. Erstes Gespräch

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Autor: Johann Gottfried Herder
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Titel: Ueber die Seelenwandrung. Erstes Gespräch
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aus: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung
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Erscheinungsdatum: 1785
Verlag: Carl Wilhelm Ettinger
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Erscheinungsort: Gotha
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[217]
Ueber die Seelenwandrung.

––––––––

Erstes Gespräch.

Charikles.

Sie kommen mir recht erwünscht, Theages und werden sich wundern, daß sie mich in einer so gelehrten Werkstäte antreffen.

     Theages. Welche Bücher! Griechisch, Latein, Englisch, gar Ebräisch; und wovon handeln sie alle? … Von der Seelenwanderung. Darüber läßt sich nun freylich viel sprechen und schreiben.

     Ch. Lassen Sie uns also sprechen.

     Th. Ich bins zufrieden: denn ich bin müssig. Eine Hypothese, die so reich ist, die so fern [218] von uns liegt, für die und wider die sich also so viel, viel sagen läßt, verdient ja wohl einige Worte für und gegen. Aber wir müssen uns erst erklären, was die Seelenwandrung sei? Es giebt eine von unten herauf; Eine andre von oben hinab, rückwärts, eine dritte geht in die Runde umher. Verstehen wir uns?

     Ch. Vollkommen. Die von unten hinauf ist, wenn etwa niedrigere Keime von Leben zu höhern verfeinert werden, wenn z. E. die Seele der Pflanze Thier, die Seele des Thiers Mensch würde u. s. f. Von oben hinab rückwärts, ist die Braminen-Hypothese: daß gute Menschen zur Belohnung, Kühe, Schaafe und weiße Elephanten, die Bösen zur Strafe Tiger und Schweine werden. Die dritte in die Runde umher, ist – die in die Runde. Von welcher wollen wir zuerst reden?

     Th. Von welcher es Ihnen gefällt. Die erste hinaufwärts ist sehr wahrscheinlich, und wenn sies ist, so zerstört sie die zweite und dritte. Ist [219] der Weg hinaufwärts bei allem Lebenden Gesetz der Natur: nun, so kann nichts zurück oder ewig im Kreise umhergehn: so muß auch der Mensch vorwärts. Bei ihm, als dem obersten Gliede der Kette, die wir kennen, kann die Schnur nicht abreissen: er ist ein Wesen wie alle Wesen und muß, wenn alles fortgeht, nach dem allgemeinen Gesetz der Natur, mit fortgehen. –

     Ch. Da nehmen wir aber schon dies Gesetz der Natur als bewiesen an? –

     Ch. So wollen wirs nicht annehmen und von der ersten Art der Seelenwandrung, ob z. E. der Mensch erst Thier, vorher Pflanze gewesen und auf seinen jetzigen Platz fortgerückt sey, noch gar nichts wissen. Wir reden also nur von der zweiten und dritten Reise, rückwärts oder in die Runde und fragen: ob dazu Data in der Natur, Erfahrungen aus dem Menschengeschlecht, Ahnungen in unsrer Seele, Begriffe in Gott, so fern wir ihn [220] kennen oder im gesamten Weltlauf liegen? Getrauen Sie sich zu antworten?

     Ch. Beynahe. Und ich fange vom klärsten, von den Erfahrungen aus dem Menschengeschlecht, an. Kennen Sie keine grosse seltne Leute, die, was sie sind, ohnmöglich auf Einmal in Einer Menschenexistenz geworden seyn können? Die schon oft da gewesen seyn müssen, um zu der Reinheit von Gefühl, zu dem Instinktmäßigen Triebe für alles Wahre, Gute und Schöne, kurz, zu der Eminenz und natürlichen Oberherrschaft über Alles, was um sie ist, gelangt zu seyn. Kennen Sie solche Menschen nicht?

     Th. Ich wüßte keinen.

     Ch. Haben Sie also auch von keinen solchen seltnen, grossen, eminenten Menschen gelesen?

     Th. O Freund, was soll das Spiel, grosse Männer nach Uniformen zu rangiren? Ich kenne grosse Männer im Leben und in der [221] Geschichte; aber keinen, der, um der Mann zu seyn, der er ist, nothwendig etlichemal in Menschen Mutterleibe gewesen seyn müßte. Die größten Männer, fand ich immer, waren die bescheidensten und aufrichtigsten. Sie verschwiegen nie, was sie in ihren Augen sind? was sie waren? was und wie sies wurden? Sie stürzten sich nicht in den Aetna[1] um Götter zu werden [2], weil die Eisenpantoffeln doch immer zu rechter Zeit ans Tagslicht kommen. Vielmehr gaben sie Confeßionen für Welt und Nachwelt heraus und beichteten.

     Ch. Und was beichteten sie? Erinnern Sie sich nicht des Pythagoras der Euphorbus gewesen war, des Apollonius von Tyana –

     Th. Lassen wir die fabelhaften Schatten und kommen lieber auf Personen, die uns im Licht [222] stehn. Petrarchs, Cardans, Montagne, Luthers, Rousseaus Confessionen, sagen sie wohl eine Sylbe davon, daß diese gewiß großen wenigstens sonderbaren Männer sonst schon in der Welt waren? daß sie fühlten, sie hätten ohne das nicht die werden können, die sie sich zu seyn bestrebten? Bekennen sie nicht gegentheils aufrichtig, wie sie sich empor gearbeitet, mit Mühe aus dem Nichts gezogen, alle Fehler und Schwachheiten noch in sich gefühlt, ja von solchen hingerissen unzweifelhaft ganz schlechte Menschen hätten werden können, wenn sie ihnen den Ziegel schiessen liessen? Erinnern Sie sich des Sokrates vor jenem Gesichtsdeuter, und Sokrates war doch auch Pythagoräischer Träume sehr fähig. –

     Ch. Vielleicht auch dieses Pythagoräischen Traums; überhaupt aber wissen wir von Sokrates, aus seinem eignen Munde zu wenig: er spricht nur durch den Mund andrer. Lassen Sie also die Exempel und sagen: glauben Sie nicht, daß der recht großen Leute nur wenig in der Welt gewesen?

[223]      Th. Sie hießen nicht groß, wenn ihrer nicht wenige wären.

     Ch. Meynen Sie, daß diese in allen Jahrhunderten seltnen grossen Leute durch Fleiß, durch eine Mühe, zu der jeder Handwerksgeist fähig ist, oder durch Natur, durch eine Art angebohrnen Sinnes durch eine Inspiration, die sie sich nicht gegeben hatten, die sie nie verließ, die niemand ihnen nachmachen konnte und jedermann unglücklich nachahmte, allein dadurch das waren was sie waren und in aller Zeit seyn werden? Sie erschienen wie Genien, sie verschwanden wie Genien, und man konnte nur sagen: „da war er, da stand er, und ist nicht mehr: wo ist wie Er ein andrer?“ Meynen Sie das nicht?

     Th. Ich darfs nicht meynen, denn es bestätigts die ganze Geschichte; aber was thut dies zur Seelenwandrung?

     Ch. Hören Sie weiter. Erschienen nicht meistens die großen Leute auf Einmal? Wie eine Wolke himmlischer Geister liessen sie sich nieder, [224] wie Auferstandne und Wiedergebohrne, die nach einer langen Nacht des Schlafs eine alte Zeit wiederbrachten, und als Jünglinge da standen in neuer Himmelsschönheit. Ists nicht, als ob das Rad der Zeiten umlaufen müßte, um das menschliche Geschlecht wiederzugebähren, den Verstand aufzuwecken und die Tugend zu erneuern? Wie, wenn solche Revolutionen in der sichtbaren Welt gerade das wären, was der Name sagt, Revolutionen auch in der unsichtbaren, der Geister-Welt, ein Wiederkommen alter edler Geister und Menschen Geschlechter?

     Th. Das klingt artig. Lassen Sie uns sehen, was an dem glänzenden Traum sey. Daß große Geister selten sind, läugne ich nicht; auch das gebe ich zu, daß sie das, was sie waren, durch Natur, und nicht durch den improbus labor[3] allein, seyn konnten. Aber zur Seelenwanderung thut dies nichts. Auch unter den Thieren giebts in jedem Geschlecht große Stuffen und Unterschiede von Fähigkeiten, die nur diejenigen näher bemerken, die mit einem solchen Geschlecht gleichsam [225] vertraulich leben: sind deßhalb diese Thiere auch gewandert? Hat der gescheutere Hund oftmals Hund seyn müssen, um, was er ist, zu werden? Oder kommt nicht offenbar alles auf glücklichere Organisation, fröhlichere Erzeugung, edlern Stamm, gute Umstände des Landes, des Klima, der Geburt, Erziehung und des hundertarmigen Zufalls an, der sich so schlimm in allen seinen Gelenken herzählen und modeln läßt? Nun vergleichen Sie Thiere und Menschen, ein Hackbrett von zwey Saiten mit der Laute, der Orgel! Welche unendliche Verschiedenheit muß im Menschengeschlecht herrschen, eben weil der Umfang seiner Kräfte so groß, seine Bildung so zart, seine Fähigkeiten so vielfach, das Klima in dem er lebt, die Welt von Umständen, die auf ihn wirken, so ungeheuer mancherley, kurz, die Glieder seiner Kette so commensurabel und so incommensurabel sind, wie Sie sichs nur denken wollen. Was kann aus einem Menschen werden! Wer hat noch je das Ziel gesetzt, wie viel und nicht mehr aus einem derselben werden könnte? [226] Und aus so vielen? in dem Strome der immer fortfließenden Welt und Menschenbildung? Wärs da nicht ein größeres Wunder, wenn lauter Plattköpfe gebohren würden, als jetzt, da sich noch manchmal gescheute Leute zeigen? Wollen Sie denn, daß der elektrische Funke nie rein und hell schlage? daß die reine Menschenform nicht unter einem Heer von Larven wenigstens hie und da zum Vorschein komme? Was brauchen wir Poltergeister und Revenants[4], da ja diese edlere Form wahre eigenthümliche Menschenform ist, von der wir eben nur durch Abartungen, die sich leider so natürlich erklären lassen, unglücklicher Weise abgekommen sind, und uns vielleicht immer mehr entfernen? Mit eben so vielem Recht könnten Sie sagen, daß Engel sich in solche höhere Menschen verkörpern: oder daß, wenn ihr Genie instinktmäßig wirkt, Thiere mit Kunsttrieben in ihnen wiedergebohren würden. Ich sehe nicht, warum wir eben die Todten stöhren, und den Propheten Samuel im Schlafrock hervorbringen müßten, nur damit wir ausrufen [227] könnten: Ich sehe Götter aufsteigen aus der Erde! – Sehen Sie die Menschheit menschlich an, und sie wird Ihnen menschlich erscheinen. Betrachten Sie die einzelnen großen Leute in ihrer Organisation, nach ihrer Geburt, Erziehung, Ort und Stelle: sie werden nicht übers Meer fahren dürfen, um Schatten herbey zu holen.

     Ch. Aber, daß diese seltnen Leute meistens zu Einer Zeit leben? –

     Th. Ist das Ihr Beweis, guter Seelenwandrer? Als ob der Haufe Seelen wie in Dante’s Hölle durch einen Windstoß herbeygetrieben, oder ein Trupp Riesen wie in Bodmers Noah auf einem Luftschiff herangesegelt käme, und nun hier abzusteigen beliebte? Schlagen Sie in der Geschichte nach, Sie werden immer finden, daß äußere Ursachen die Leute weckten; daß Umstände, Erfordernisse, Noth, Belohnung sie auffoderten, Nacheifrung sie anreizte, daß eine Reihe Fehler sich erschöpft hatte, daß eine Nacht von Zeiten vorbey war, und endlich doch wieder einmal Morgen anbrechen mußte. [228] Meistens hatte man so viel vorgearbeitet, daß diese glücklichern Leute nur die Fehler und Bemühungen ihrer Vorfahren nutzen durften, um Ruhm zu erlangen. Nach Dissonanzen trafen sie auf consone Punkte der Saite – und das ist alles, was durch Vergleichung der Zeiträume und Menschen unser Auge erreicht. Weiter hin ins Unsichtbare dem Finger der Gottheit nachtappen wollen, wenn und wie er Menschen gebohren werden läßt? halte ich über unsrer Sphäre. Ich kann, wenn es aufs Dichten ankommt, sie sodann eben sowohl aus dem Monde, bey gewissen glücklichen Vierteln, als aus der Vorwelt, durch eine Palingenesie herleiten, die nicht eben so regelmäßig wie der Mond wechselt.

     Ch. Das letzte thut nichts. Wir sind noch viel zu jung in der Geschichte: wir haben noch viel zu wenig dergleichen periodische Revolutionen erlebet, als daß wir sie wie den Mondswechsel berechnen könnten.

     Th. So sind wir auch viel zu jung, Fictionen zu hegen, die wir nicht beweisen können, zu [229] denen wir aus aller Geschichte keine festen Data haben. Jung oder alt – das Wiederkommen des menschlichen Geschlechts müßte merklich geworden, die Ebbe und Fluth der Geister müßte, wenn auch nur muthmaßend, bemerkt seyn. Ja wenn mit dem Wiederkommen der menschliche Verstand und der moralisch-feine Sinn, die innere Thätigkeit und Elasticität des Menschen, gar wüchse: Himmel wie vortrefliche Menschen müßten wir haben, an denen, die schon zehnmal dagewesen waren! Und wo sind diese? Wo, mein Freund, sind sie? Die weisern, bessern, stärkern Menschen – haben sie in der neuen Zeit oder im Alterthum gelebet? und wie oft sind denn die Homere, Sokrates, Pythagoras, Epaminondas, Scipionen wieder erschienen? geschweige, daß sie von Jahr- zu Jahrhunderten gewachsen wären! Immer waren die menschlichen Phönixe selten, und werdens bleiben. Wir dürfen nicht besorgen, daß mit dem Jahr 1800 plötzlich Götter auf der Erde statt der Menschen wandeln werden, weil das Kreisrad nun den [230] nassen Leim getrocknet, und die Figuren zur Form gebracht habe. Lassen wir also diese Wahrsagungen an Ort und Stelle, und begnügen uns Menschen zu seyn wie unsre Vorfahren gewesen, Einmal gebackne Menschen, noch nicht zum zweytenmal in Jupiters Hüfte genähet. – Oder wissen Sie etwa, lieber Wandrer, ein Geschichtchen aus Ihrer Urwelt, dessen ich mich auch erinnere? so bringen Sie es vor.

     Ch. Sie sollen es haben; nur bitte ich Sie aufrichtig zu seyn, und die Gedanken und Zurückerinnerungen Ihrer Jugend, insonderheit Ihrer ersten unbefangenen Kindheit, nicht zu verläugnen. Haben Sie nicht oft Erinnerungen eines vorigen Zustandes gehabt, den Sie in dieses Leben nirgend hinzusetzen wußten? In den schönen Zeiten, da unsre Seele noch eine halbgeschloßne Knospe ist, haben sie nicht Personen gesehen, sind an Oerter gekommen, wo Sie hätten schwören mögen, Sie seyn schon da gewesen, Sie haben die Personen schon gesehen? Und doch wars in diesem Leben nie (wie Sie sich [231] beym Ueberdenken völlig vergewissern können) – woher sind also diese Erinnerungen? Woher können sie seyn, als aus einem vorigen Zustande? Daher sind sie auch so süß, so erhebend! Die seligsten Augenblicke, die größesten Gedanken eines Menschen, rühren daher; in gemeinern Stunden staunen wir uns selbst an, und begreifen uns nicht. Und das sind wir! wir, die aus hundert Ursachen so tief hinabgesunken, und in die Materie verkleibt sind, daß uns wenige Erinnerungen so reiner Art übrig bleiben. Die höhere Menschen, die, von Wein und Blut gesondert, ganz in Einfalt, in Mäßigkeit, in der Ordnung der Natur lebten, brachtens ohne Zweifel höher: wie das Beyspiel Pythagoras, Jarchas[5], Apollonius, und anderer lehrt, die sich deutlich erinnerten, was und wie vielmal sie in der Welt gewesen waren. Wenn Wir blind sind, oder kaum zwey Schritte vor uns sehen, dürfen wir deshalb läugnen, daß Andre hundert und tausend weiter, ja bis auf den Boden der Zeit hinab, in den tiefen, dunkeln Brunnen der Vorwelt sehen können, [232] und daselbst alles rein, deutlich, hell und klar gewahr werden?

     Th. Sie sind ein wahrer Pythagoräer, mein Freund, und würdig, daß Sie bis zum tiefsten Brunnen der Vorzeit, ja bis zum Urquell der Wahrheit kämen, wenn Menschen dahin kommen können. Ich gestehe Ihnen frey: auch mir sind dergleichen süße Träume der Rückerinnerung aus meiner Kindheit und Jugend bekannt. Ich kam in Oerter und Umstände, wo ich hätte schwören mögen, schon gewesen zu seyn: ich sah Personen, wo es mich dünkte, mit ihnen gelebt zu haben, gegen die ich gleichsam auf alte Bekanntschaft fußte. Sollte es aber davon keine andere Ursache geben?

     Ch. Ich wüßte keine, als die Rückerinnerung eines vorigen Zustandes!

     Th. Allerdings eines vorigen Zustandes; nur nicht ausser unsrer Lebenszeit und in einem andern Körper. Wäre die Erfahrung in diesem geschehen, so wäre die Erinnerung körperlicher Gegenstände, auch wahrlich in einer Welle des Stroms [233] Lethe geblieben, und käme uns jetzt nicht in einem andern Körper wieder. Haben sie aber nicht auf sich Acht gegeben, wie sich die Seele immer ingeheim beschäftigt: wie sie insonderheit in der Kindheit und Jugend Plane macht, Gedanken vereinigt, Brücken baut, Romane aussinnet, und im Traum alles mit Zauberfarben des Traums wiederholet? Sehen Sie jenes Kind stille spielen und sich mit sich unterhalten. Es spricht mit sich selbst: es ist in einem Traum lebhafter Bilder. Diese Bilder und Gedanken werden ihm einst wiederkommen, zu einer Zeit, wenn es sie nicht vermuthet, und nicht mehr weiß, woher sie sind. Sie werden ihn mit der Dekoration der ganzen Scene erscheinen, in der es sie dachte, oder die ihm gar ein jugendlicher Traum anschuf. Die Situation wird die Seele angenehm täuschen, wie jede leichte und Ideenbringende Zurückerinnerung täuscht: man wird sie für eine Eingebung ansehen, weil sie wirklich wie Eingebung aus einer andern Welt, d. i. reich an Bildern und ohne Mühe kommt. Ein einziger Zug des jetzigen [234] Gemähldes bringt sie: ein einziger Klang, der jetzt die Seele berührt, erweckt alle schlafende Töne aus ältern Zeiten  Das sind also Augenblicke der süssesten Schwärmerey, insonderheit bey schönen, wilden Luftörtern, bey angenehmen Augenblicken des Umgangs mit Personen, die wir unvermuthet und sanftgetäuscht in uns oder uns in ihnen gleichsam aus einer frühern Bekanntschaft fühlen: Erinnerungen aus dem Paradiese, aber nicht eines schon einmal genossenen Menschenlebens, sondern aus dem Paradiese der Jugend, der Kindheit, angenehmer Träume, die wir schlafend oder wachend träumten, und die ja eigentlich das wahre Paradies sind. Die Palingenesie ist also richtig, nur nicht so wunderbar, wie Sie meynten, sondern sehr natürlich.

     Ch. Ihre Erklärung ist reizend, aber –

     Th. Ich meyne, sie könne auch überzeugend werden, wenn wir auf uns selbst merken. Glauben Sie nicht, daß ein Mensch die höchste Freude, ja eine Art von Entzücken spüret, wenn er einen Traum, den sich die Seele aus ihren [235] liebsten Bildern schuf, nun unerwartet und plötzlich, wenn auch nur Stückweise, realisirt sieht? Muß sie einem solchen Traum nicht zujauchzen und ihn umarmen, wie Adam die Eva umarmte: da sie in ihm das Gebilde ihrer selbst, das Geschöpf ihrer süssesten Augenblicke, die Frucht ihrer geheimen Liebe gewahr wird? Sehen Sie, m. Fr., daher kommen die Anstaunungen, die plötzlichen und oft so angenehmen, so tiefahndenden, so gewaltigen Sympathien, daher kommt das weissagende Göttliche des ersten Eindrucks. Kein zweyter Eindruck kann es uns geben: er schwächt nur die Wollust des Ersten und decomponirt das Gemälde. So lange die Seele sich den ersten Traum wahrmacht, schwebt sie gleichsam im Elysium der Kindheit; ist der Traum aufgelöst, so sind leider! die Götter – Menschen worden, sie baut den Acker und nährt sich mit Kummer und Schweiß des Angesichts. Merken sie insonderheit, daß bey wohlorganisirten Menschen dergleichen Erinnerungen meistens schön, aber wild, romantisch, oft überspannt sind – gerade wie [236] die Eindrücke und Gefühle der Jugend. Kranke Leute behalten Ideen des Schmerzes, schwache Leute Gefühle der Mühe und der Lästigkeit aus frühen Gefühlen der Art, die sich ihnen eindrückten. Vielleicht wurden manche begeisterte Helden und Schwärmer durch ein hitziges Fieber dazu in der Kindheit gebildet, davon ihnen Ideen blieben. Diese kommen zu gewissen Zeiten in Stunden der Schwachheit, des plötzlichen Ueberfalls, wenn die Seele nicht auf ihrer Hut ist und ihre Gedanken gleichviel womit combinirt, wieder, sie kommen oft wieder und werden herrschende Gefühle. Ich könnte ihnen frappante Exempel davon erzählen; mit denen wir aber zu weit abkämen. Bemerken sie Verliebte und Wahnsinnige, insonderheit traurig-Verliebte und sanft-Wahnsinnige, sie werden die Macht erster Eindrücke, die ganze Jugend ihrer Seele in allen Zügen ihrer Gemälde sehn, in allen Klagen ihrer Verirrung hören. Ja bemerken Sie nur Ihre eigne Seele in Träumen. Da sind wir alle dergleichen Verirrte. Nach gewissen Jahren decoriren wir [237] alle unser Träume nur mit Scenen aus der Jugend: selbst die Personen, die in ihnen spielen, wenn es uns die nächsten und leibsten wären, nehmen andre, gleichsam süßere romantische Gestalten an. Bei allen Phantasien der Liebe ist der erste Eindruck der süßeste und unauslöschlich: kurz wir buchstabieren, wo wir können, ein Alphabeth aus der Jugend wieder, dessen Züge uns die angenehmsten, eindrücklichsten, geläufigsten sind. Habe ich Ihnen mit meiner Auflösung ein Gnüge geleistet?

     Ch. Noch nicht völlig. Einige Erinnerungen sind doch so sonderbar, so fremde, und gleichsam (um mit Ihrer Sprache zu reden) so gar nicht zu buchstabieren mit den Eindrücken der Kindheit und Jugend dieses Lebens, daß –

     Th. Daß man zu Ihnen nothwendig eine andre Welt ein früheres Leben brauchte? Nun warum bleiben Sie denn nicht Ihrer Hypothese ganz treu, und nehmen wirklich eine andre Welt, ein früheres Zusammenseyn im Reiche der Geister und Seelen an, wie es Plato dichtete, [238] wie die alten Rabbinen und viele Völker der Welt es sich dachten? Mich dünkt, wenn geträumt seyn muß, so träumt man lieber im freyesten der Träume. Denken Sie sich z. E. wie sie einst mit Ihren Geliebten im Lande der Geister so

– Klein, wie Theilchen des Lichts ungesehn schwärmeten,
wie sie auf einem Orange Blatt
sich zum Scherzen versammleten,
Im wollüstigen Schoos junger Aurickelchen
Oft die zaudernde Zeit schwatzend beflügelten –[6]

Warum müssen Sie sich die Scene so eng machen und die Seele in unserer dürftigen Menschheit geistige Allmosen oft und mühsam betteln lassen: da sie sie doch wohlfeiler und alle auf Einmal haben kann, wenn Sie sie ins Reich der Geister senden und sie ihrer körperlichen Klausur entladen. Haben Sie keine Briefe der Verstorbnen an die Lebendigen[7] gelesen?

     Ch. Viele.

[239]      Th. Nun so wissen Sie, wie frey und zwanglos es im Reich der Geister zugeht. Darum liebt auch die Kindheit Träume der Art sehr, weil sie sich mit ihren Träumen mischen, und dieselbe wie durch Urkunden aus einer andern Welt zu bekräftigen scheinen. Für mich, der ich in Gedichten so was gelten lasse und es früher gerne las; in den Jahren, wo ich jetzt bin, begnüge ich mich, die Träume der Vorexistenz aufzugeben und meine Seele in ihren jetzigen Banden, in ihrer armen Wirklichkeit zu studieren –

     Ch. Und was studieren Sie an ihr aus?

     Th. Aus? Das weiß ich nicht. Aber an ihr zu studieren, dünkt mich, nutzet viel; und ich wollte, daß wirs auch zu diesem Zweck an unsern Kindern thäten.

     Ch. Zu diesem Zweck?

     Th. Dazu, daß wir auf ihre ersten Eindrücke, auf die Art und Würkung derselben in ihren Seelen, auf die geheimen Ideen und Bilder merken, mit denen sie sich in der Stille tragen, [240] die sie wie ein feines unsichtbares Gewebe spinnen und fortspinnen nach eigner Lust und Liebe. Haben Sies bemerkt, Charikles, daß Kinder plötzlich Ideen äussern, über die man sich wundert, wie sie zu ihnen gekommen seyn? die eine lange Reihe andrer Ideen und geheimer Unterhaltungen voraussetzen, die wie ein voller Strom aus der Erde brechen – zum untrüglichen Wahrzeichen, daß er nicht erst den Augenblick aus ein paar Regentropfen zusammengeflossen, sondern lange, lange schon als Strom verdeckt unter der Erde geflossen sey, vielleicht manche Hölen durchbrochen, manche Klippen mit sich gerissen, manchen Unrath an sich gesetzt habe –

     Ch. Und wenn wir das bemerken, wer kann wider die Natur? Können wir den Lauf dieser Ströme hemmen oder ans Licht graben, oder gar den Bau der Erde und der Menschenseelen nach unserm Gefallen ändern?

     Th. Wir könnens, und könnens auch nicht. Wir könnens nemlich so weit wirs sollen, und sollens soweit wirs können. Wenn wir die Seelen [241] unsrer Kinder liebhaben und von der Macht erster Eindrücke so überzeugt sind, wie ich davon überzeugt bin, sollten wir nicht diese ersten Eindrücke, sofern sie in unsrer Gewalt sind, unvermerkt lenken und wählen? Unvermerkt sage ich: denn sonst ist alles vergebens. Die Seele will bey ihren geheimsten Operationen keinen Zwang, keine mechanische Vorschrift: sie wirkt frey aus sich heraus, und in diesen ersten Arbeiten liegt das Emblem der Wirkungen ihres ganzen Lebens. Sie also belauschen, sie, wenn sie in holden Wüsten, in anmuthigen Labyrinthen irrt und sich zu weit verirret, in der Gestalt eines hellen Sterns, oder wie Minerva bey Homer in der Gestalt eines fremden Wandrers, (nicht Lehrers, nicht Zuchtmeisters) zurechtweisen, kurz, wie jener Philosoph sich täglich wünschte, ihnen fröhliche Morgen- und Jugendbilder gewähren, damit sie einst am Abend und im Alter fröhliche Zurückerinnerungen aus dem Platonischen Reiche der Geister haben mögen, und keine erniedrigende, entsetzliche Ideen der Seelenwandrung bedürfen: das meyne [242] ich, können und sollen wir; doch freylich unter den Händen des Schicksals.

     Ch. Ja wohl unter den Händen des Schicksals! –

     Th. Denn da wir über alle Ideen und Eindrücke unsrer selbst nicht Herren sind, viel weniger sind wirs über die Eindrücke unsrer Freunde und Kinder. Wir haben unsre Seelen nicht selbst hieher gesetzt; noch weniger sind wirs, die ihre Kräfte gegen das von allen Seiten auf sie zuströmende Weltall ausgerüstet haben. Es giebt also wirklich Personen, die zum Leiden, zum Unglück gesetzt sind; denen frühe Eindrücke und Ideen, Bekümmernisse und Krankheiten die Lust am Leben ziemlich gemindert und geraubt haben. Der Trank, den sie trinken sollen, ist ihnen bitter oder trübe und unschmackhaft gemacht: denn es giebt Uebel, die für dieses Leben nicht mehr ganz ausgethan werden können. Auch diese Personen müssen sich indessen begnügen, die Bürde die ihnen aufgelegt ist, eine von ihnen unabtrennliche Lebensbürde, [243] mit Fröhlichkeit, wenigstens mit gelassenem Muth zu tragen, und auf ein andres, freyeres, besseres Daseyn hoffen.

     Ch. Sehen Sie, wie Sie auf meine Seelenwandrung kommen! Wer weiß, was diese Leute in ihrem vorigen Zustande verübten, daß sie jetzt durch die Hand des Schicksals und nicht durch eigne Schuld so elend sind? – Aber Sie bereiten sich zum Weggehn –

     Th. Es ist spät, und ein andermal wollen wir anfangen, wo wirs liessen, eben wie es bey der Seelenwandrung zu gehen pflegt. Schlafen sie wohl, Charikles, und träumen vom ursprünglichen Reich der Liebe, nicht, daß Sie voraus einmal Sejan oder Ravaillac gewesen.

     Ch. Gut, daß ichs sodann nicht mehr bin und mein böses Schicksal schon weghabe. Schlafen Sie wohl.

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  1. Der griechische Philosoph Empedokles soll dies der Sage nach getan haben.
  2. – Deus immortalis haberi,
    dum cupit Empedocles, ardentem frigidus Aetnam influit –
         Horat.
  3. Übersetzung: übertriebene Arbeit
  4. Übersetzung: wiederkehrende Gespenster
  5. indischer Brahmane
  6. Aus J. A. Schlegels Choriambischer Ode an Klopstock
  7. Von Christoph Martin Wieland 1753 verfasst