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Titel: Treppenlose Musterhôtels
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aus: Die Gartenlaube, Heft 37, S. 588, 590–591
Herausgeber: Ernst Keil
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Erscheinungsdatum: 1869
Verlag: Verlag von Ernst Keil
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
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Treppenlose Musterhôtels.


Es giebt jedes Jahr Zeiten, namentlich in großen Städten, wo anständigerweise Niemand zu Hause sein darf. Man frage während des Juli in Berlin reiheherum vor allen Thüren der Standes- und Geldaristokratie und sie bleiben geschlossen, oder ein dienstbarer Geist eröffnet uns die Thür mit der Kunde: „verreist – im Bade!“

Nach dem Schlusse des Parlaments werden Tausende von Fenstern in London blind und zeigen nur das Weiße oder festgeschlossene Lider. Dies gilt mehr oder weniger von allen Hauptsitzen der Civilisation, welche während der Wintermonate immer so viel Gesundheit, Nerven- und Muskelkraft verzehrt, daß durch ein Bad, eine Ferienreise wieder neues Futter für die unersättlichen Dämonen der Arbeit und des Genusses gesammelt werden muß. Außerdem giebt es das ganze Jahr hindurch Tag für Tag auf Tausenden von Eisenbahnstationen pfeifende und dampfende Gelegenheit, die immer mehr zur Wahrheit werdende Freizügigkeit zu benutzen. Angebot und Nachfrage, die souveränen Gewalten des Handels und der Cultur überhaupt, bemächtigen sich auch der Menschen und behandeln sie als Waare, die von Orten des Ueberflusses wohlthätig nach Gegenden des Mangels verdampft und verschifft wird. Darin liegt zugleich der einzig richtige Weg für täglich frische Lösung der sogenannten socialen Frage und des in Socialistenköpfen spukenden Kampfes zwischen Arbeit und Capital, ebenso der Strikes. Capitalien, Arbeitskräfte und Menschen überhaupt [590] werden immer flüssiger und freizügiger und stellen sich immer mit Dampfgeschwindigkeit oder sogar blitzschnell gern da ein, wo sie am willkommensten sind, den meisten Werth haben und die besten Werthe schaffen können. Der Zu- und Abzug von Menschen in großen Städten beträgt schon wöchentlich mehr oder weniger Tausende. Noch mehr Tausende kommen und gehen in Geschäften, zum Besuche und Vergnügen. Unsere höchste Civilisation nimmt sozusagen wieder einen nomadischen Charakter an. Auf den Höhen derselben ist man schon nirgends mehr recht, und zugleich überall zu Hause.

Unsere Potentaten haben in den Ländern umher Jeder Dutzende von Schlössern, die Kaufmanns- und Industriefürsten ihre Landsitze, städtischen Privatwohnungen und unter den verschiedenen Längen- und Breitengraden Filiale ihrer Weltgeschäfte. Kurz, ein ewiges Kommen und Gehen Tag und Nacht das ganze Jahr hindurch. Nirgends mehr eine ruhige, feste Heimath mit ihrer Gemüthlichkeit und Herzensbefriedigung. Die Miethscasernen in den großen Städten haben selbst etwas Beunruhigendes, so daß mindestens alle halbe Jahre massenhafte Aus- und Einwanderungen aus einer in die andere Wohnung entstehen und in Berlin allein während der ersten April- und Octobertage mehr Menschen ziehen, als einst Moses Kinder Israels aus Aegypten führte. In Amerika ist es bereits so weit gekommen, daß nicht nur viele Menschen, sondern auch ganze Familien gar nicht mehr in Privatwohnungen, sondern blos in prachtvollen Hotels aus- und einziehen.

Der Nomadencharakter unserer höchsten Civilisation und diese Tag und Nacht ununterbrochen waltende Freizügigkeit erhebt unsere Hôtels zu einer der wichtigsten, unentbehrlichsten und segensreichsten Institutionen unserer Zeit, besonders seitdem die Ruhe, Bequemlichkeit und Sicherheit einer wirklichen Heimath in diesen Miethscasernen unserer großen Städte mehr oder weniger zur Fabel geworden sind. Unsere Unterschrift auf einem der sogenannten Fuhrbach’schen Miethscontracte in Berlin ist unter Umständen schlimmer, als wenn wir mittelalterlich Leib und Seele mit Blut dem Teufel verschrieben. Der Wirth mit etwas teuflischem Charakter hat damit die Gewalt, uns zu jeder Tages- und Nachtzeit körperlich und geistig zu quälen und uns sogar zu exmittiren. Was er nicht thut, besorgen nicht selten die aus allen Bildungs- und Rohheitsgraden zusammengewürfelten Mitbewohner unter, neben und über uns; dazu die Leierkasten, Bettler, Diebe, Einbrecher, Einkommen- und Miethssteuersammler, die bösen Geister, welche durch Schlüssellöcher, aus Abzugsröhren und Gossen vor unseren Fenstern sich als zehrende und würgende Aftermiether eindrängen. In diesen Höllen zwischen unseren vier Pfählen sind wir immer auf lange Zeit gebunden.

Das Hôtel in neuester Vollkommenheit empfängt uns schon auf dem Bahnhofe hochachtungsvoll und ladet uns in den bequemen Salon-Omnibus ein. Vor der prachtvollen Hôtelthür nehmen uns und unser Gepäck flink und gewandt dienstbare Geister auf und heben uns wie durch Zauberei zu der Etage empor, in welcher wir nach unserer Wahl und unseren Mitteln auf Tage oder blos Stunden in unbeschränkter Freiheit wohnen wollen. Wir finden sofort jede Bequemlichkeit eines eigenen Heerdes und zwar meist in der vollkommensten Verwendung aller betreffenden Erfindungen für unser persönliches und häusliches Wohl, die elektrische Klingel, den schnellen Erfolg der Haustelegraphensprache, die beste Gesellschaft oder ungestörte Einsamkeit, ein Bad, Lesezimmer, einen künstlerisch gedeckten und mit einer Auswahl der schmackhaftesten Speisen und Getränke bedienten Tisch und überhaupt mehr, als wir in der theuersten und besten Wohnung des aristokratischsten Stadttheils erwarten dürfen. Dies gilt freilich bis jetzt nur von einer geringen Zahl der ersten unter den Hôtels erster Classe, aber bei dem Wetteifer auf diesem Gebiete können wir hoffen, daß sich diese und andere Vorzüge immer allgemeiner einfinden und namentlich auch die sogenannten Familienhôtels soweit entwickeln werden, bis die Gemüthlichkeit eigenen Heerdes und die Schwungkraft unbeschränkter Freizügigkeit sich darin miteinander vereinigen.

Ich weiß nicht, wie viele Hôtels bis jetzt diesem Ideale am nächsten kommen, aber ich kenne wenigstens zwei, welche dafür als Muster gelten. Die berühmten riesigen Paläste Amerika’s haben blos den Vorzug noch größeren Umfanges, wogegen ihnen viele innere Schönheiten für das Gemüth und persönliche Genügen abgehen. Sie haben z. B. noch Treppen. Diese sind im Vergleich zu meinen Idealen in Brighton und Berlin ein überwundener Standpunkt. Statt der Treppen verlange ich Salon-Omnibus zwischen den verschiedenen Etagen, wohl verstanden, nicht für jedes Hôtel, welches mich aufnimmt, sondern für meine Ideale von Hôtels. Ich rechne auf diesem Gebiet auch gleich unsere besten Privathäuser und besonders große Industriewerkstätten hinzu, weil ich dann für die künftige Menschheit ungeheure Summen von Zeit und Muskelkraft für bessere Zwecke spare.

Men erstes verwirklichtes Ideal-Hôtel erhebt sich Angesichts des wohlthätigen Golfstromes vom atlantischen Meere her zwischen England und Frankreich in der See-Vorstadt Londons, Brighton, wo die Aristokratie des Standes und Geldes nach ihren Herbstausflügen bis zur Wiedereröffnung des Parlaments zu überwintern liebt. Es ist nicht nur das größte, sondern auch das vollkommenste Hôtel Englands, mit den Untergeschossen zwölf Etagen hoch, an welchen unzählige Balcons und Veranda’s malerisch heraushängen und eine wundervolle, unbegrenzte Aussicht über die Wogen des Meeres und die darauf schaukelnden Schiffe und Dampfer gewähren. Von den Schönheiten und Bequemlichkeiten im Inneren will ich nicht weiter reden, da sie vor anderen Hôtels keine auffallenden Vorzüge bieten, aber die Treppenlosigkeit durch alle Etagen und Abtheilungen des riesigen Bauwerks hindurch und deren Ersatz durch fünf hydraulische Omnibusse verdient Anerkennung und Nachahmung.

Hydraulische Omnibusse? Was bedeuten diese aus zwei alten Sprachen zusammengekoppelten Worte? Den Omnibus auf der Straße kennen wir, aber solche Fahrzeuge im Hause auf und ab werden Vielen unerklärlich vorkommen. Und nun gar hydraulische, d. h. durch Wasserkraft auf- und abgezogene Omnibusse! Wir wollen die Sache auch für die Uneingeweihten anschaulich zu machen suchen. Eine eingeschlossene Säule von Wasser sucht mit fabelhafter Gewalt des Druckes nach unten ihr Gleichgewicht wieder zu gewinnen. Dieser Druck ist desto größer, je höher die Wassersäule. Durch künstlichen Druck auf eine eingeschlossene Masse Wasser läßt sich der natürliche ersetzen, und wir gewinnen dadurch die für Industrieen aller Art so gewaltige und segensreiche hydraulische Presse. Im Brighton-Hôtel liefert ein bis zur Höhe des Daches mit Wasser gefüllter Thurm alle Pferdekräfte für die fünf Salon-Omnibusse darin. Jede Cisterne auf dem Boden der Häuser mit Wasserleitung kann uns durch geschickt angebrachte Röhren unaufhörlich still und unermüdlich dieselben Pferdekräfte liefern, die wir jetzt durch Auf- und Absteigen auf Treppen in Stiefelsohlen, Beinmuskeln und Lungen mit Zeitverlust vergeuden. Der Wasserthurm im Brighton-Hôtel besteht eigentlich auch blos aus einer großen Cisterne unter dem Dach, welche durch die Wasserwerke der Stadt beständig gefüllt erhalten wird. Der dadurch oben gewonnene Wasserdruck wird durch eine Röhre bis unter die Erde herabgeleitet und durch anderweitige Röhren nach Art der Heber wieder zu Bewegungen nach oben verwendet. Auf diese Weise gewinnt man gleichsam immer zugfertige Pferdekräfte nach oben und unten, welche wieder durch Röhren, Ventile und klingelschnurartige Züge ganz nach Belieben immer sofort oben oder unten angespannt werden können. Die Wagen oder Omnibusse dazu bestehen aus Salons, die schöner und bequemer sind, als die Coupes erster Classe auf unseren Eisenbahnen. Sie bewegen sich innerhalb eines Schachts ruhig und geräuschlos auf und ab und treffen in jeder Etage auf eine thürartige Oeffnung, durch welche man ohne Weiteres aus- und eingehen kann. Bewegung und Stillstand wird durch bloßes Ziehen an einer Art von Klingelschnur immer augenblicklich bewirkt. So lange man zieht, steigt oder fällt der Omnibus und steht augenblicklich still, so wie man losläßt. In weniger als einer Minute können acht Personen gleichzeitig fünfundsechszig Fuß hoch oder tief steigen; der Aufenthalt in jeder Etage nimmt in der Regel nur einige Secunden in Anspruch.

Dies ist der Omnibus für die Gäste. Ein zweiter bewegt sich von den unteren Geschossen bis in die obersten in einer Höhe und Tiefe von sechsundsiebenzig Fuß für die Dienerschaften und das Gepäck oder die Bestellungen der Gäste. Ein dritter läuft von der Küche aus mit den Kellnern und den Kunstwerken der Kochkunst für die Gäste aller Etagen. Der vierte Omnibus bewegt sich zwischen dem unterirdischen Thee- und Kaffeedepartement und dem allgemeinen Gesellschafts-, Kaffee- und Rauchzimmer auf und ab. Der fünfte, kleinste endlich hat das ausschließliche Vorrecht, Zeit und Muskeln zwischen dem Weinkeller und der Schenkbarre zu sparen.

[591] Es wäre der Mühe werth, zu berechnen, wie viel Muskelkraft und Zeit täglich in einem solchen Hôtel mit nur zweihundert Gästen und etwa zwanzig Kellnern und Aufwärtern gespart wird, und diesen Gewinn im Vergleich zu den Treppen in anderen Hôtels und drei- bis vierstöckigen Privathäusern volkswirthschaftlich zu capitalisiren; es kämen jedenfalls viele Millionen von Thalerwerthen heraus, welche jetzt durch den Gebrauch von Treppen verwüstet werden. Wir erwähnen hier nur noch beiläufig, daß die fabelhafte Kraft des Wassers auch bereits in Docks zur Hebung von ungeheuren Schiffslasten und sogar ganzen Schiffen, in Form von Turbinen, statt der Balgentreter für Orgeln, statt des Dampfes für allerhand Maschinen, sogar Nähmaschinen verwendet wird.

Das andere Musterhôtel ohne Treppen finden wir in Berlin unter den Linden. Es ist das Grand Hôtel de Rome des Herrn Mühling, welches von der Lindenecke her noch zugleich zwei anderen Straßen eine prachtvolle Front im italienischen Renaissancestyl zeigt. Korinthische Säulenporticus, geflügelte Greife, die Göttin der Gastfreundschaft, Wappen aller europäischen Staaten, im Innern Kunstschöpfungen der Industrie und der berühmtesten Künstler, Arabesken, Bacchantenzug von Ewald, Morgen und Nacht von Hildebrand, Reliefs von Thorwaldsen und sonstige reiche Farben- und Formenpoesie geben dem ganzen riesigen Bauwerk durchweg den heiteren Charakter eines gelungenen Kunstwerkes, so daß sich auch meist Künstler aller Art und sonstige Vertreter höchster Cultur aus ganz Europa begegnen und im Gesellschaftszimmer, wie im Speisesaal improvisirte internationale Parlamente der Schönheit, Kunst und Wissenschaft bilden. In Bequemlichkeit vereinigt es mehr Vorzüge in sich, als die berühmtesten Hôtels der Erde. In London sind neuerdings wahre Wunderwerke von gastlichen Tempeln durch Actiencapital emporgezaubert worden, und das Grosvenor- und Charingcroß-Hôtel, jedes mit zweihundert Fremdenzimmern, überbieten es auch an Größe, aber solche Vereinigung von Schönheit und allen praktischen Erfindungen für das Wohl der Menschen wie in dem Mühling-Hôtel finden wir nirgends. Man blicke in den Hofraum: das ist ganz der Empfangshof des berühmten Louvre-Hôtel zu Paris und hat dabei den Vorzug eines lichten und leichten Eisendaches von Borsig. Eine weiße Marmortreppe führt durch blitzende Spiegelglasthüren in den Empfangsraum, wo der Fremde sofort auf einem Verzeichniß von verfügbaren Zimmern zugleich deren Preise und überhaupt alles Wissenswerthe schriftlich, mündlich und gedruckt erfahren kann.

Lassen wir alle übrigen trefflichen Einrichtungen, wie möglichst vollkommene Ventilation, Erwärmungs- und Abkühlungs-Apparate, Haustelegraphie und dergleichen Comfort höchster Ordnung als bereits auch anderen guten Hôtels mit eigenthümlich hier unerwähnt, so bleibt diesen Musterhôtels immerhin die eine außerordentlich wichtige sociale, wirthschaftliche und künstlerische Bedeutung, daß alle Erfindungen, welche man für das Wohl der Wohnung, häuslicher und gesellschaftlicher Bequemlichkeit bis jetzt gemacht hat, und die sonst überall nur erst vereinzelt und als Seltenheiten zur Anwendung kommen, sich hier auf eine ebenso künstlerisch schöne als praktisch vollkommene Weise zu einem musterhaften Organismus vereinigen. Für Bauunternehmungen, häusliche Einrichtungen aller Art und sogar zur Lösung der socialen Frage läßt sich daher in diesem Mühling’s-Hôtel manch’ gute Lehre eincassiren, die wir nach Berichtigung unserer Rechnung uns als wirklichen Reingewinn gutschreiben können.