Trauriges Lied, auf einem Kamm geblasen

Textdaten
Autor: Kurt Tucholsky
unter dem Pseudonym
Kaspar Hauser
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Titel: Trauriges Lied, auf einem Kamm geblasen
Untertitel:
aus: Die Weltbühne. 26. Jahrgang 1930, Nummer 35, Seite 325–326.
Herausgeber:
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 26. August 1930
Verlag: Verlag der Weltbühne
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Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Die Weltbühne. Vollständiger Nachdruck der Jahrgänge 1918–1933. 26. Jahrgang 1930. Athenäum Verlag, Königstein/Ts. 1978. Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
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Trauriges Lied, auf einem Kamm geblasen

Heuer – die Nazis sagen immer: heuer – in diesem Sommer wird das mit der Liebe wohl nichts werden. Es kann nichts werden. Warum nicht? Weil daß die Damenmode so blumig ist … wer hat uns das angetan?

Früher … das war eine schöne Zeit. Wenn ich noch daran denke, wie meine gute Großmama mit kurzem Kleidchen in den Alpen herumsprang, daß es eine Freude war – wie einfach war das alles! Es war eine Mode, die sogar der Mann verstand: klar, übersichtlich, praktisch in Bezug auf und bezüglich des … es war eine schöne Zeit. Manchmal, in freudischen Kinderträumen, taucht zwischen Abitur und einem Traum-Ich, das nackt auf dem Platz vor dem Wasserturm in Mannheim steht, die Angst vor den Flitterkleidern unsrer Embryonaljugend auf: Mama vor der Gesellschaft, in ungeheuerm Korsettkrach mit dem Hausmädchen begriffen, einen ganzen botanischen Garten im Haar, auf dem Stuhl liegt ein Textillager, und zweitausend Stecknadeln glitzern auf dem Fußboden …

Im verwichenen Frühjahr hatte ich zu einem Freund gesagt, daß das deutsche Reichsgericht ein Gericht sei, und daneben gebe es eine politische Verwaltungsbehörde, die unter anderm die Kommunisten bekämpfe – aber mit der Justiz habe das nichts zu tun: das Reichsgericht spreche Recht. Der Freund sah mich besorgt an, und abends hatten sie mich schon in eine Zwangsjacke gesteckt, eine hübsche, kleidsame Sache, die es bekanntlich gar nicht gibt … gestern habe ich zum ersten Mal ohne Wärter ausgehen dürfen. Da sah ich die junge Mode, zum ersten Mal.

Gott, der du mir zur Freude die lieben Hundchen nachtaus, nachtein bellen läßt, der du ihre Flöhe zählst und die Herzen der Menschen kennst –: du wirst das nicht wollen. Du kannst es nicht wollen, lieber Gott. Sprich. Sag ein Wort. Sage: es ist ein Traum. Eine Vision. Es kann nicht sein –

Von den alten Damen will ich gar nicht sprechen – denen steht diese Mode gar schön zu Popo. Aber die jungen Frauen …!

Sie haben alle etwas an, das sieht aus wie bedrucktes Vorsatzpapier, so ganz billiges, wie pathetische Papierblumen … wenn ich, posito, gesetzt den Fall, und ich hätte in meiner Bibliothek ein Buch von Wolfgang Götz – das ließe ich so einbinden … und so laufen sie herum. Nein, so gehn [326] sie herum; laufen können sie nicht. Sie können nicht laufen, weil sich nachmittags und abends die Kleider um ihre Beine schlingen, die, dessen ungewohnt, hier und da ausschlagen; wie die Füße mückengepeinigter mexikanischer Esel; das Zeug schlunzt und schlingert um ihre Füße, unten wackelt es, und wenn die Kleider nicht gar herrlich gearbeitet sind und vom ersten Schneider kommen, dann denkt man an wandelnde Lampenschirme. Sie selber glauben, es fließe; aber es weint nur an ihnen herunter. Manche, die Hagern, sehen aus wie männliche Transvestiten nachts um vier: es ist die Stunde, wo jene schon zeigen wollen, daß sie Männer seien. Es ist eine vergnügte Mode.

Und alle sehen achtundzwanzig Jahre älter aus, lieblich wie verspätete alte Jungfern aus einem Roman der neunziger Jahre … „Und noch einmal sollte das Liebesglück an Ernestine herantreten, und ihre Wangen erglühten in einem ihr selber ungewohnten Rot. Fortsetzung bei der nächsten Nummer.“ So eine Mode ist das.

Voller Freude bringen die illustrierten Zeitungen nebeneinander Bilder von der Modenschau aus dem Jahre 1908 und von heute – die von heute ist um eine Spur häßlicher. Mit solchen Kleidern steigen sie in die Autos. Damit sind sie dem Manne ebenbürtig. Damit laufen sie herum. Wie groß muß ihre Freude an der Verkleidung sein, daß junge Mädchen und solche, die es wieder werden wollen, in diesen Kissenbezügen einherwallen!

Tausendundvier Augen locken mich, tausendunddrei, die eine junge Dame hatte ein Glasauge; ich sah keine, ich beachtete keine.

Früh um fünf stand am Sanatoriumseingang ein bitterlich weinender Mann. Es war ich. Er bat um erneute Aufnahme; der Portier sprach: „Sie sind wohl verrückt?“ Ich ging hinein. Mein Herz muß heuer ohne Liebe bleiben, traurig stehe ich am Fenster, ein Liedchen in Moll auf meinem Kamm blasend – ich sehe dabei in den schönen Park des Klapskastens, die Krokusse blühen, Fräulein Gudula verneigt sich vor einer Birke, Herr Melchior kämmt seinen Astralleib, ein deutscher Verleger zeichnet pünktliche Abrechnungen in den erstaunten Sand, und alle zusammen sind noch lange nicht so verdreht wie das Unterfangen, in diesem Sommer draußen die Mädchen zu lieben.

Kaspar Hauser