Tragödien und Komödien des Aberglaubens/Das Traumbuch
Tragödien und Komödien des Aberglaubens.
In Schillers „Braut von Messina“ finden sich zwei Träume. Den einen hatte der Vater der unglückseligen Braut: er sah aus seinem Ehebett zwei Lorbeerbäume und zwischen ihnen eine Lilie erwachsen, die sich in eine Flamme verwandelte und das Haus verschlang. Den anderen hatte Donna Isabella: ihr deuchte, ein Löwe komme und lege einem engelschönen Kinde ein Lamm in den Schoß. Hierauf kam ein Adler geflogen, der ließ demselben Kinde ein Reh in den Schoß fallen, dann legten sich Löwe und Adler dem Kinde zu Füßen. Die Fürstin schloß, daß sich ihre Söhne in der Liebe zu ihrer Tochter begegnen würden – sie begegneten sich auch wirklich, aber anders als sie dachte. Daher ereifert sie sich nun über die Falschheit der Orakel und ruft zornig aus:
Vermauert ist dem sterblichen die Zukunft,
Und kein Gebet durchbohrt den ehrnen Himmel.
Ob rechts die Vögel fliegen oder links,
Die Sterne so sich oder anders fügen,
Nicht Sinn ist in dem Buche der Natur,
Die Traumkunst träumt, und alle Zeichen trügen.
Der Hang, über das Schicksal zu grübeln, in den tausend Zufälligkeiten des Lebens den vorausgeworfenen Schatten der Ereignisse zu sehen, die Dinge als Boten des heranziehenden Verhängnisses aufzunehmen – die Sucht, im Weltlauf Aehnlichkeiten, Beziehungen, eine unmittelbare Harmonie und Wechselwirkung zu entdecken, ist den Völkern angeboren und im allgemeinen ein Ausfluß ihrer Frömmigkeit und ihrer Eitelkeit. Sie leben der gewissen Zuversicht, daß sie unter der besonderen Obhut ihres Gottes stehen und daß ihnen derselbe Gott anzeige, was sie betreffen soll, und sie sinnbildlich, aber treulich über ihre Zukunft, namentlich wenn dieselbe trüb ist, unterrichte. In der Bewegung eines Kometen, in einem Regenbogen, einer Fluth, einem angetriebenen Walfisch; in dem Eintritt einer Sonnenfinsterniß, in dem Flug eines weisenden Vogels, in dem Angang eines Wolfes, eines Schweines, eines Heerwurms, eines alten Weibes; in ganz persönlichen kleinen Geschehnissen, sofern sie vom Willen unabhängig sind, zum Beispiel im Niesen, in alledem erblicken sie Gottes Finger, hören sie Gottes Stimme, er winkt ihnen, er ruft ihnen, er schickt ihnen diese Warnung. Als die Franzosen nach Rußland zogen und etwas Furchtbares in der Luft lag, da hieß es, sonst hätten die Rosse gewiehert, wenn sie aus dem Stalle kamen, damals hätten sie die Köpfe hängen lassen; sonst wären ihnen die Raben entgegengeflogen, jetzt begleiteten sie die große Armee nach Osten über den Niemen, den Leichengeruch witternd …
Wir sind nicht mehr in dem Grade darauf erpicht, die Zukunft abzulesen, wie es die Alten waren; aber stille Gemüther, tiefe [606] Gemüther, Frauengemüther spinnen sich noch heute in ihre Ahnungen und Vorgefühle ein – wie Tacitus von den alten Deutschen berichtete: Sie glauben auch, daß den Frauen etwas Heiliges und Zukunftvoraussehendes innewohne, darum verschmähen sie niemals ihren Rath und fügen sich ihren Bescheiden. Mag es eine Thüringerin oder eine Preußin sein, sie hat den Kopf voll Weissagungen; sie fährt bei keiner Schafherde vorüber, ohne nachzusehen, auf welcher Seite:
Schäfchen zur Linken, wird Freude ihr winken;
Schäfchen zur Rechten, giebt’s was zu fechten –
sie wird kein Spinnlein sehen können, ohne sich das durch die ganze Welt gehende Sprüchlein vorzusagen:
Spinne am Morgen, Gram und Sorgen;
Spinne am Mittag, Glück für den andern Tag;
Spinne am Abend, süß und labend –
sie hält strenge darauf, daß das Vieh nicht mit einem Besen geschlagen wird, weil es sonst nicht gedeiht; sie wird sich hüten, ihrem Freunde etwas Spitziges zu geben, weil das die Liebe tötet; wenn sie ihm eine Haarlocke schenken würde, so sähe sie ihn nie wieder, denn Haare scheiden; sie ist sicher überaus unglücklich, wenn sie zum Neujahr das Fenster öffnet und eine alte Hexe grüßt herauf, oder wenn sie eines schönen Morgens drei schwarze Hühner auf einer Stange sieht – und wenn sie einmal nüchtern Atzi macht, so weiß sie ganz genau, weiß sie aus Erfahrung, daß das Sonntags: angenehme Gesellschaft, Montags: beschenkt, Dienstags: gekränkt, Mittwochs: geliebt, Donnerstags: einen Brief, Freitags: viel Erdenglück und Sonnabends: gehen alle, aber auch alle Wünsche zurück – bedeutet. Aber nüchtern muß sie niesen, wie auch in der Frühe, bevor sich der Osten färbt, die Träume prophetisch sind.
Daß es etwas zu bedeuten habe, wenn einer nüchtern und frühmorgens beim ersten Ausgang niesen muß, ist eine alte Sache. Natürlich, daß die Menschen den Anfang des Tages, wie den des Jahres und des Lebens, mit ihrer Geheimnißkrämerei umgaben, und daß hier der geringste Umstand vorbedeutend wurde. Wenn man mit dem linken Fuße zuerst aufsteht, wenn man den linken Schuh eher als den rechten anzieht, wenn man einen Schuh an den falschen Fuß zieht, so dringt einem der kleine Mißgriff, am frühen Morgen begangen, eine Kette von Mißhelligkeiten und endlosen Aerger ein. Man soll auch das linke Ohr nicht vor dem rechten und die linke Hand nicht vor der rechten waschen, sonst ist man den Tag über schlechter Laune, und man soll ein neugebornes Kind nicht auf die linke Seite legen, sonst bleibt es sein Lebtag linkisch. Dem Hindu ist die ganze linke Hand für unrein; beim Essen hält er sie hinter sich oder stützt sie auf. Wenn man in die Kirche geht, soll man nicht mit dem linken Fuße zuerst hineintreten. Wenn man aber im Frühling die erste Schwalbe sieht, so soll man stehen bleiben und mit einem Messer in die Erde stechen, und zwar unter dem linken Fuße: dort findet man, so heißt es im Volksaberglauben, eine Kohle, die ist gut gegen das kalte Fieber.
Aller Anfang ist wichtig und bedeutsam; auf dem Garne, das ein noch nicht sieben Jahre altes Mädchen gesponnen hat, zu schlafen, bringt der Mutter Glück; und was man träumt, wenn man die erste Nacht unter einem fremden Dache ruht, das geht in Erfüllung.
Die Geister, die uns in der Nacht während des Schlafes besuchen, sind nämlich in den Augen des Volkes, gleich den weisenden Vögeln und den Thieren, die uns den Tag über vorbedeutend begegnen, Gottes Boten und Himmelsoffenbarungen. Den Menschen, die gewohnt sind, ihre Zustände und ihre Krankheiten wie Personen leibhaft vor sich hinzustellen, die von der stillen, geheimnißvollen Thätigkeit der Seele gar keine Ahnung haben und es nicht anders wissen, als daß jedes Ding seine Ursache haben müsse, werden natürlich auch die Bilder, die ihnen die Phantasie der Nacht vorgaukelt, wie etwas Selbständiges, außer ihnen Lebendes vorkommen, etwa wie die Seelen Verstorbener, die auch so huschen und auch nicht festzuhalten sind. Wer mag denn auch die reinen Hirngespinste von begründeten Vorstellungen immer unterscheiden? Wer vermag denn recht anzugeben, ob er wirktich wach sei? Wie sagt doch gleich Calderon?
Ja, der Mensch, das seh’ ich nun,
Träumt sein ganzes Sein und Thun,
Bis zuletzt die Träum’ entschweben.
Wenig kann das Glück uns geben,
Denn ein Traum ist alles Leben …
ein rechter langer räthselhafter Traum, voller Gesichte wie der Traum, voll poetischer Vergleiche wie ein Traumbuch. Daß das Ausziehen eines Zahnes den Tod eines Familiengliedes bedeute, liest man in jedem Traumbuch: der Mund bedeutet das Haus, die Zähne sind die Insassen des Hauses, rechts die männlichen und links die weiblichen; am Rheine setzen sie hinzu, daß der ausgezogene Zahn bluten müsse, wenn er den Verlust eines Verwandten bedeuten solle. Thränen werden im Traume am liebsten durch Perlen angedeutet, wie schon Emilia Galotti weiß. Sie konnte ihm gram sein, dem Geschmeide, denn dreimal hat es ihr geträumt, als ob sich jeder Stein desselben in eine Perle verwandelte; „Perlen aber, meine Mutter, Perlen bedeuten Thränen!“ Das ist ganz dichterisch; die Dichter vergleichen die Thränen wie die Zähne überall mit Perlen. Emilia Galotti stammt aus Italien; einer Landsmännin, der Königin von Frankreich, Maria von Medici, wird ein ähnlicher Traum von den Historikern zugeschrieben. In einer Mainacht des Jahres 1610, vor der Ermordung des Königs Heinrich IV., soll sie geträumt haben, daß sich die zwei großen Diamanten, die sie dem Juwelier zum Einsetzen in ihre Krone gegeben hatte, in Perlen verwandelt hätten.
In der That sind es nicht selten die Geschichtschreiber, die nachträglich für ihre Helden träumen und einen Traum erfinden, der ihnen in den Kram paßt. So erzählt Fredegar einen schönen Traum des fränkischen Königs Childerich, den dieser in der Hochzeitsnacht gehabt und der ihm die Größe seines Sohnes Chlodwig und die Leiden seiner Nachkommen vorausverkündigt haben soll. Childerich träumte, er gehe in den Hof und finde ihn voller Löwen, Leoparden und Einhörner. Er sah abermals hinein, da liefen Bären und Wölfe durch den Hof. Er sah zum dritten Male hinein, da balgten sich die Hunde und die Katzen. Basina, seine Braut, eine Thüringerin, gab dem Traume die Deutung: er hatte die Zukunft der Merowinger, des ersten fränkischen Konigshauses, erschaut. Zuerst, meinte sie, werden die Konige mit den Großen allein sein. Dann wird der Mittelstand regieren. Endlich wird das kleine Volk regieren.
Es giebt überhaupt kaum irgend einen bedeutenden Mann in der Weltgeschichte, vor dessen Geburt nicht irgend etwas geträumt worden wäre, sei es nun von der Mutter oder vom Vater oder vom Großvater oder eben von der Sage, die in solchen Fällen geschäftig ist.
Indessen, wie zweifelnd man sich auch den sogenannten „historischen“ Träumen gegenüber verhalten mag, man würde doch zu weit gehen, wenn man alle Träume ohne Unterschied für müßige Erfindungen halten wollte; und zwar läßt sich ein vorsichtiger Glaube daran recht wohl mit einer kühlen naturwissenschaftlichen Betrachtung vereinigen. Es unterliegt ja gar keinem Zweifel, daß die Traumbilder so wenig wie die Blitze und die weisenden Vögel von einem Gotte gesendet werden, sondern in der geheimen Werkstatt des Gehirns, auch des thierischen, zubereitet werden – denn auch die Thiere, z. B. die Hunde, träumen. Die Traumbilder haben insofern etwas Verständigeres, als hier in der That bisweilen eine noch unerforschte Seelenkraft, eine Art Prophetengabe zu Tage zu treten scheint. Die Vorzeichen können nicht anders als zufällig sein sie haben mit dem berechnenden Verstande nichts zu thun, der Zusammenhang, in den sie mit den Schicksalen der Menschen gebracht werden, besteht ausschließlich in der Einbildung der letzteren. Die Traumbilder sind im allgemeinen auch nur zufällig, blinde Nachwirkungen der Tageseindrücke und der Tagesereignisse, erfahrungsgemäß beschäftigt sich der Träumende am häufigsten und liebsten mit den Dingen, die ihn während des wachen Zustandes in Anspruch nahmen; in einzelnen Fällen aber, wenn die Saiten der Seele abgespannt und die Nerven entlastet sind, stellen sich ganz neue, deutlich umschriebene, unvorhergesehene Bilder ein, die man aus der bisherigen Richtung der Phantasie nicht, sondern nur aus stillen Beobachtungen, heimlichen Schlüssen und aus den verborgenen Tiefen des Denkorganes erklären kann. Nicht nur neu sind die Traumbilder dann und wann, auch alte bekannte Vorstellungen drängen sich überraschend auf, ohne daß es bei eifrigstem Nachdenken gelänge, eine Vermittlung nachzuweisen. Daß wir plötzlich von Dingen und Personen träumen, an die wir vorher nicht im mindesten gedacht haben, welcher von den Lesern könnte das nicht aus eigener Erfahrung bestätigen? – Im Traume thun die [607] Menschen tiefe Blicke in ihr eignes Innere und sehen es mit Dichteraugen an.
Alle Vorbedeutungen, Zeichen sowohl als Träume, wurden von den Vorfahren in ein System gebracht; es entstand die krause Kunst der Zeichendeuter, die Mantik oder die Divination, eine Wissenschaft, die man studierte, gleichsam eine Sprache, die man trieb wie Hebräisch oder Sanskrit. Wer sie innehatte, wurde zum Professor für sie ernannt, zum Hofwahrsager oder zum offiziellen Augur, als welcher er seine gründlichen Kenntnisse freilich mitunter dem Staatswohl unterordnen mußte. Und da nun „die Wissenschaft“ entdeckt und ein guter Grund gelegt war, so folgten bald auch schöne schriftliche Aufzeichnungen, Hand- und Lehrbücher der Kunst, kurzgefaßte Kompendien, Anleitungen zum Verständniß der göttlichen Zeichensprache, was um so willkommener war, als sich doch nicht jeder kleine Mann den Luxus eines eigenen Zeichendeuters gestatten konnte. Die Träume insbesondere wurden gesammelt und erklärt, wie schwierige Wörter in einem Wörterbuch, so daß Hinz und Kunz nachsehen und das Nöthige finden konnte, und aus diesen Sammlungen erwuchsen die Traumbücher, die gleich den Punktierbüchern eine eigene Gattung der Litteratur darstellen, auf Jahrmärkten und auf den Bänken der fliegenden Buchhändler aufliegen heute wie vor Jahrhunderten, die heute wie vor Jahrhunderten vom Volke, von Christen, Juden und Mohammedanern gekauft und gelesen werden.
Das älteste Traumbuch hat man bruchstückweise auf Ziegelsteinen in der Bibliolhek von Ninive gefunden. Im klassischen Alterthum erfreute sich des höchsten Ansehens das Traumbuch des Artemidorus, eines Ephesers, der zu Anfang des zweiten Jahrhunderts n. Chr. lebte, sein Fach gründlich verstand und in „spekulativen“ und „allegorischen“ Träumen bewandert war wie einer; sein griechisch geschriebenes Buch ist in der That sehr merkwürdig zu lesen. Im Jahre 1563 erschien zu Basel ein lateinisches Traumbuch von dem berühmten Sonderling Cardanus, das im selben Jahre ins Deutsche übersetzt ward. Seitdem schossen diese nützlichen Schmöker, meist schlecht gedruckt und ärmlich ausgestattet, aber „nach Erfahrungen eines alten Traumdeuters zusammengestellt“, auf wie die Pilze; es giebt ihrer fast in allen Sprachen. In Italien riß mit dem Aufkommen der Lotterie die Sitte ein, alle Traumbilder in Ziffern zu übersetzen und in den Traumbüchern Aufschlüsse über Glücksnummern zu geben und zu suchen, daher die italienischen Traumbücher gewöhnlich pomphafte Nebentitel wie „Echo des Glückes“, „Hafen der Fortuna“ tragen. Der Italiener, dieser Zahlenmensch, dieser moderne Pythagoras, nimmt jedes Tagesereigniß und was seine Vorfahren als ein Augurium angesehen hätten, für eine verhüllte Ziffer, jedes durchgehende Pferd, jeder zerbrochene Krug verwandelt sich ihm in eine Zahl; es ist also nur folgerichtig, wenn er diese Spielerei auch auf die Träume ausdehnt. Mit seiner Zahlenwuth hat er Oesterreich angesteckt, wo in unserem Jahrhundert den Lottokollekteuren der Traumbuchhandel verboten ward, aber das kleine Zahlenlotto noch immer seine guten Tage hat, so oft eine hervorragende Persönlichkeit stirbt. Mit Hilfe der Traumbücher benutzt man die wichtigsten Ereignisse im Lebenslaufe des Verstorbenen zu Kombinationen, die stets großen Anklang finden. So wurden in Rom, als Papst Pius IX. starb, die sogenannten Papstnummern, in Ungarn vor einigen Jahren die Nummern der deutschen Kaiserin Augusta massenhaft gesetzt. Aus der Summe der Lebensjahre (78), dem Geburtsjahr (1811), dem Alter der Braut bei der Vermählung (18) stellten die Sternseher, die Wahrsager und die Weisen in Oesterreich-Ungarn eine Terne zusammen, und die Einnehmer konnten nicht genug Riscontri über die Nummern 11, 18 und 78 schreiben. Und was das Sonderbarste war: in Ofen wurden die Nummern 11, 18, 78 thatsächlich gezogen.
So schreiben sich die Gefangenen in Wien die Nummern ihrer Zelle auf, um darauf zu setzen und wenn Pater Abraham in der Predigt den Leuten ins Gewissen redet: „Ja, so seid Ihr! Da sieht einer im Traume die Nummer 45 oder die Nummer 46, gleich läuft er hin und spielt sie, seine paar Kreuzer zu verthun!“ – so kann er sicher sein, vertraulich befragt zu werden: „Pater Abraham, wie waren die beiden Nummern?“
Nicht ohne Vorbedacht haben wir das Traumbuch mit einem Wörterbuch verglichen. Denn es geht von der Voraussetzung aus, daß im Traume eine Art Natursprache gegeben sei, die der Verfasser gewissermaßen in die Landessprache übersetze, und daß diese Natursprache, geringe Verschiebungen abgerechnet, in allen Ländern und zu allen Zeiten dieselbe sei. In diesem Falle hätte ein gutes Traumbuch freilich noch mehr Werth als ein Weltsprachewörterbuch. Leider ist die umlaufende Ware aller tieferen Beziehungen, ja jedes Nachklangs aller dichterischer Vorstellungen völlig bar. Am ehesten findet man dergleichen noch in der mündlichen Ueberlieferung des Volkes.
Unglück, Trauer, Krankheit, Tod, tausendfältiges Herzeleid, dergleichen Jammer wird mit Vorliebe prophezeit; das Leben ist ja auch danach! Was bedeuten kleine Kinder? – Nichts als Unangenehmes, Schererei und Sorge. – Was bedeuten Eier im Traume? – Fürchterlichen Aerger oder gar einen Todesfall. Eier sind, namentlich in der Mehrzahl, kein guter Traum. Zwar ist es eine bekannte Geschichte, die Johannes Pauli in dem beliebten Volksbuch „Schimpff und Ernst“ dem alten Cicero nacherzählt, daß einer einmal im Traume ein rohes Ei ausgeschlürft und daß ihm das Eiweiß Silber, das Eidotter rothes Gold bedeutet habe. Er machte eine Erbschaft und schenkte dem Tranmdeuter zwanzig Pfennige, worauf der meinte, ob es nicht für das Dotter auch was gebe! – Hilft nichts, Eier taugen nun einmal nichts, und wenn’s frischgelegte Straußeneier wären; das Volk sagt sprichwörtlich: „He drömt vun gele Eiern“, um auszudrücken, er sei irre.
Die Traumdeutung hat gelegentlich eine förmliche Kultur der Träume nach sich gezogen: sie wurden nicht mehr abgewartet und hingenommen wie sie kamen, sondern angebaut wie Getreide, gezüchtet wie die fetten Kühe im Traume Pharaos. Man suchte sie zu bekommen, man legte sich an geweihter Stätte nieder, um im Tempelschlaf Besuche aus dem Jenseits zu empfangen. Es gab eine Zeit, wo die Götter den Kranken oder ihren Angehörigen im Traume erschienen und Rezepte verschrieben, die nicht so viel kosteten wie heute. Ein Soldat der Kaisergarde im alten Rom war von einem tollen Hunde gebissen worden – flugs träumte seiner Mutter in Spanien von einem unschätzbaren Mittel gegen die Hundswuth, das noch Plinius erwähnt. Der Feldherr Ptolemäus hatte eine gefährliche Schußwunde, Alexander der Große erfuhr im Traume, was für ein Pflaster aufzulegen sei. Der Architekt Mnesikles war beim Baue der Propyläen vom Gerüst gefallen, da erschien Pallas Athene dem Perikles im Traume und sagte: nimm das Kräutlein Ehrenpreis. Noch Kaiser Karl dem Großen bezeichnete ein Engel im Traume die Eberwurz als das untrügliche Mittel gegen die Pest, daher auch die Pflanze ihm zu Ehren „Carlina“ heißt. Es handelte sich nun darum, sich die nützlichen Anweisungen methodisch zu verschaffen; die Kranken wurden zu dem Ende feierlich in den Tempel des Aeskulap gebracht, um hier auf dem Felle eines frischgeschlachteten Opferthieres eine Nacht zuzubringen und so zum Gotte der Heilkunde gleichsam in die Sprechstunde zu gehen. Man nannte das „Inkubation“ – sie fand auch in Apollotempeln und Serapistempeln statt; Blinde gingen gewöhnlich in einen Isistempel. Die Priester, welche den Tempelschlaf einleiteten und die Träume der Kranken auslegten, träumten die specifischen Heilmittel wohl auch selbst für ihre Patienten.
So sehen wir, wie die räthselhafte Erscheinung der Träume den Menschen auf die seltsamsten Wege und Abwege leitete; die natürliche Erklärung der Gebilde, welche vor dem Schlafenden auftauchte, entzog sich dem Geiste des Wachenden. Doch nur der Weise übt in diesem Falle bescheidene Entsagung; die unkritische Menge aber bleibt vor der offenen Frage nicht stehen. Weil sie das Woher? nicht ergründen konnte, so verlangte sie wenigstens nach einem Wozu? Was ihr Verstand nicht zu begreifen vermochte, das deutete die Phantasie aus; und um diesen Ausdeutungen den Schein des Willkürlichen zu nehmen, um sie gleichsam mit Gesetzeskraft zu umkleiden, wurden sie aufgeschrieben, kodifiziert! Das ist der Entstehungsweg jener unscheinbaren Hefte, die auf den Gemüthszustand weiter Kreise auch heute noch von wesentlichem und leider selten glücklichem Einfluß sind.