Thüringer Sagenbuch. Zweiter Band/Die Frau im Stubenbrunnen

Die Judenstadt Thüringer Sagenbuch. Zweiter Band
von Ludwig Bechstein
Das Wahrzeichen
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409.
Die Frau im Stubenbrunnen.

Dicht an der Ilm sprudelt aus der aus Kalkfelsen bestehenden Anhöhe, welche die Mauern der Krannichfelder Niederburg trägt, eine sehr schmackhafte, im Sommer sehr kühle, im Winter dagegen mildwarme Quelle hervor, der Stubenbrunnen genannt. Dieser Name soll entstanden sein, weil früher über der Quelle eine sogenannte Brunnenstube, ein kleines Häuschen gestanden habe, welches aber eingestürzt ist. Das Wasser dieses Brunnens ist nicht allein das wohlschmeckendste in und um die ganze Stadt herum, sondern der Brunnen friert selbst im härtesten Winter nicht zu, daher sein reichhaltiges Wasser dem Bedarfe der nahen Nieder-Mühle stets entspricht. Viele sagen, daß der Stubenbrunnen aus einem der drei Barichfelder Berge, dem „blauen Berge“ komme, da man in das „blaue Loch“, eine sehr tiefe und einem Erdfall ähnliche Grube auf jenem Berge, Gerstenkörner geworfen habe, welche beim Stubenbrunnen wieder herausgekommen seien.

[283] Aus diesem Stubenbrunnen nun, zu welchem man auf einem bequemen Wege und mehreren Stufen hinabsteigt, stieg einmal um die Mittagsstunde eine sehr schön gestaltete weiße Frau empor und ging im Brunnen fort bis in die nahe Ilm. Dort zog sie eine Waschleine auf, dann brachte sie ein schneeweißes Körbchen, in welchem sich Wäsche befand, unter dem Arme hervor, und hing diese Wäsche auf die Leine. Da sie nun fertig war mit Aufhängen, ging sie mehrere Male an der Wäsche auf und ab. Einige Kinder aber, die gerade an den Brunnen kamen, um Wasser zu holen, verscheuchten diese räthselhafte Brunnenfrau, denn als sie die Kinder erblickte, packte sie ihre Wäsche schnell zusammen und war mit einem Male verschwunden. Diese weiße Frau will man öfters und auch an anderen Stellen der Ilm, namentlich beim Frau-Hollenloch gesehen haben, wo sie ebenfalls Wäsche aufhängte. So wie sie aber von einem Menschenauge bemerkt wurde, ist sie noch jedesmal verschwunden.

In den Frauen und Jungfrauen, welche die Sage häufig aus Brunnen und Flüssen treten, Wäsche aufhängen und an den Ufern oder an sonnigen Trockenplätzen bleichen läßt, eint sich die Wasserfeinen- oder Nixensage eigenthümlich mit der Bergfeinensage, den Leinknotten klengelnden Erscheinungen. Bei diesen der Beginn des Flachsbaues, bei jenen das bereits verarbeitete, fertige, nutzbare Linnen, beides unter der Schirmhut germanischer Najaden und Oreaden, über welche die Hulda, die ja auch Berg- und Waldfrau, und zugleich Brunnenfrau ist, gebietet.