Thüringer Sagenbuch. Zweiter Band/Das Sibyllenthürmchen

Das stille Kind Thüringer Sagenbuch. Zweiter Band
von Ludwig Bechstein
Der eherne Wolfram
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[313]
431.
Das Sibyllenthürmchen.

Ganz nahe der Fahrstraße, die von Erfurt nach Gotha führt und dicht unter der alten Citadelle Cyriacsburg steht ein sehr alter, ziemlich großer Bildstock in Form eines gothischen Thürmchens. Bildliche Figuren in Stein aus dem Leben Jesu schmücken dieses alte Denkmal, welches im Jahre 1716 durch den damaligen Erzbischof zu Mainz, Lothar Franz, erneut wurde. Manche haben behauptet, an der Stelle, wo dieses Thürmchen stehe, habe vor grauen Zeiten eine Alrune oder Sibylle gewohnt und geweissagt, daher noch immer der altüberkommene Name; andere sagten, das Denkmal solle den Ort bezeichnen, wo die erste Christenkirche dieser ganzen Gegend gestanden [314] habe. Eine dritte Sage hat romantischere Färbung und klingt aus einer Zeit, zu welcher auch die rein gothische Arbeit des Sibyllenthürmchens nebst den daneben stehen den drei alten Steinkreuzen paßt.

Eine Gräfin von Kevernburg, Sibylla geheißen, hatte einen jungen mannhaften Ritter zum Bräutigam, den sie am anberaumten Vorabende ihrer Hochzeit mit Sehnsucht erwartete. Allein der Geliebte kam nicht; auf der Reise zu ihr war er nebst zwei Edelknappen von einer Schaar von Feinden oder von Räubern an jener Stelle unter der Cyriacsburg überfallen und beraubt worden. Alle drei wurden dort erschlagen und begraben, und die unglückliche Braut ließ dort auf jedes Grab ein Steinkreuz setzen und das Denkmal errichten, zu welchem später sich eine förmliche Wallfahrt erhob; die junge Gräfin selbst aber nahm in einem der Klöster Erfurts den Nonnenschleier und betete für das Seelenheil ihres ermordeten Bräutigams.