Textdaten
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Autor: Kurt Tucholsky
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Titel: Taschennotizkalender
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aus: Das Lächeln der Mona Lisa, S. 299–301
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Auflage:
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Erscheinungsdatum: 1929
Verlag: Rowohlt
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Erscheinungsort: Berlin
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Originalherkunft:
Quelle: ULB Düsseldorf und Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
Erstdruck in: Vossische Zeitung, 30. Juni 1928
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Taschen-Notizkalender

Meine Freundin Grete Walfisch hat mir aus dem völkerversöhnenden Locarno einen Notizkalender geschickt, den man in die Tasche stecken kann. Ich habe darin geblättert und sogleich des alten, schönen Berliner Liedes gedacht:

Ich gucke einmal,
ich gucke zweimal –
Ich denk: Nanu?
da hat doch einer dran gedreht …?

Das Ding ist in deutscher Sprache verfaßt, unzweifelhaft – aber irgend etwas in der Druckerei muß feucht geworden sein: der Verfasser, das Papier oder der Setzer … es ist eine Art Privatdeutsch. So:

Über „Angaben und Rezepten über einfache Tierarzneikunde“, wobei zu merken: „Zur Vernichtung der Lause“ und „Zur Entfernung der Fliegen“ treten wir in den Jahreskalender, der durch allgemein belehrende Angaben und fromme Sprüche geziert ist. Da hätten wir im Januar die „Sieben Wunder der Welt“, unter denen an erster Stelle die „Längenden Görten von Semiramis“ hängen, an fünfter [300] aber der „Koloß von Rhodus, der in dem Hafen als Leuchtturm diente“. Der Koloß schillert in allen Artikeln. „Er war zirka 40 Meter hoch. Durch ihre Beine fuhren die größten Schiffe mit vollen Segeln.“ Durch dem Koloß seine.

Die eingestreuten Sentenzen sind unbestreitbar richtig, wenn auch nicht immer zur Gänze verständlich. „Wer bitter im Munde hat, kann nicht süßpricken“ – wie wahr! und weil schön dunkel, so doppelt beachtenswert … Auch: „Die Rosen fallen ab, die Dörner bleiben“ enthält eine schwermütige Lebensweisheit, die uns überall weiterhilft, nur nicht in der Küche. In der Küche helfen Kochrezepte. Zum Beispiel dieses: „Würste mit Eiern.“

„Nehmet die Würste eine nach der andern, schneidet sie in der länge und setzt sie zum Kochen in eine ungeschmierte Brandpfanne; sind dieselben zu mager, so kann man sie mit einen bißchen Butter kochen. Sobald die Würsten gekocht sind, wirft darauf die geschüttelten Eier und nachdem diese gerinnt sein werden, schickt die Speise ganz warm auf den Eßtisch.“ Das war ein merkwürdiger Vorgang.

Der ist aber gar nichts gegen das am Bratspieß geröstete Lamm.

„Der am Bratspieß geröstete Lamm. Nimmt ein ¼ Lamm“ (man beachte die Subtilität der Gewichtsangabe!); „laßt ihm einige Stunden lang mit öhl, Pfeffer, Salz oder einem Tropfen Essig ausruhen. Durchbohrt ihm da und dort mit einer Messerspitze. Zieht ihm auf den Brandspieß mit einem Ästchen Rosmarin, und schmiert ihm öfters mit der obgenannten Flüssigkeit, bis er gekocht ist. Bevor ihn zu servieren nimmt das Ästchen Rosmarin weg.“ Ob es Hammelbraten wird, was da herauskommt, ist eine andre Frage; aber es ist sicherlich die tierfreundlichste Art, ein Lamm [301] zu braten. Nie noch hat ein Koch daran gedacht, ein Lamm bei solcher Prozedur ausruhen zu lassen.

So blättere ich und lerne die „Embleme der Farbe“, zum Beispiel: „Dunkelpomeranzenfarbig: Genugtuung, Ruhmlieben“; kluge Sätze allgemein gültiger Lebenserfahrung: „Der Mensch spinnt an, der Zufall webt“, und am allerschönsten ist es, wenn ich überhaupt nicht mehr weiß, was gemeint ist. Dann leuchtet die deutsche Sprache wie der Mond hinter den Wolken hervor, und ich denke darüber nach, ob wir Vollmond haben oder Mittelmond oder Jungmond; es ist ein Deutsch wie frisch aus dem Lexikon, die einzelnen Wörter gibt es, aber es ist keine Sprache. Nun, laßt uns hier nicht von der modernen und mondainen Literatur sprechen, sondern im bescheidenen Kalender aus Locarno blättern – denk du an deine Liebe, ich denk an meine, und beherzigen wir den Spruch auf Seite 22, links unten:

„Liebe ist nicht ohne bitter.“ Wem sagt der Kalender das!