Stunden der Andacht/Vor dem Eintritt des neuen Jahres, zum Jahresschluß

« Im Monate Elul Stunden der Andacht Am Morgen des neuen Jahres »
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Vor dem Eintritt des neuen Jahres. Zum Jahresschluß. (ערב ראש השנה‎‎)

„Lobe meine Seele den Herrn, und was in mir ist, seinen heiligen Namen, lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes gethan.”

Es neigt sich der Tag, zu Ende geht das scheidende Jahr, es schließet sich vor uns wie ein gesiegeltes Blatt, zu dem wir nichts mehr hinzufügen und von dem wir nichts mehr hinwegnehmen können, das uns nichts als die Erinnerung dessen, was es für uns enthalten, und dessen, was wir hineingetragen, zurückläßt, und das nun an dem Throne des Allerheiligsten für oder gegen uns zeugen wird.

In vielfältiger Gestalt stellt sich das verlebte Jahr noch einmal meinem Geiste dar. Es ziehen an mir vorüber die strahlenden Erscheinungen der Freude, der frohen Tage und Stunden, wo das Licht deiner göttlichen Gnade mir geleuchtet, wo das Reich deiner Segnungen sich mir geöffnet, und das Leben in seinen schönsten Seiten sich mir gezeigt; sie treten vor mir hin all die heitern, glücklichen Stunden voll Genuß und Befriedigung, mit denen deine Allgüte mein Dasein geschmückt und gesegnet hat, Stunden voll glücklicher Thätigkeit, voll des seligen Bewußtseins meiner hohen Menschenwürde und Bestimmung, und es füllt sich mein Herz mit Rührung und Anbetung, und meine Brust erhebt sich voll des unnennbaren glühenden Dankes dir, Allvater, Allbeglücker! „Lobe meine Seele den Herrn, und was in mir ist, seinen heiligen Namen. Lebe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht was er dir Gutes gethan.“

Aber auch die düstern Bilder des Schmerzes und des Trübsals, die deine Hand über mich verhängt, werden vor mir lebendig! Oft waren es Tage voll Qual und Angst, die mich niederdrückten; oft bittere Täuschungen, schwere Prüfungen, die meine Seele mit Trauer füllten; oft war’s Noth und Gefahr, die meinen Blick [41] trübten und umnachteten; oft tiefer Gram und schweres Leid, die mein Herz zusammenpreßten und meine Kräfte aufzehrten! Aber auch in den dunkelsten, herbsten Stunden des Lebens ließest du deine Liebe mich fühlen, gabst du deinen Trost mir ins Herz. Wenn ich ermüdet war und ermattet von der dornenvollen Bahn, erneuetest und verjüngtest du die Kraft meiner Glieder; wenn Alles mir Hilfe und Rettung absprach, wars deine Hand, die mir half zur rechten Zeit; und wenn Alles mich verließ, standest du allliebend mir zur Seite, und wieder erklingen alle Saiten meines Herzens in tiefen innigen Tönen des Dankes und des Lobes gegen dich, Allvater. „Lobe den Herrn, meine Seele, und vergiß nicht, was er dir Gutes gethan!“ –

Die Nacht ziehet herauf, es scheidet das Jahr – laß, Allmächtiger, mit ihm alle Leiden und Bitterkeiten, alle Sorgen und Beschwerden unseres Lebens dahin schwinden, alle Krankheit und Gebrechlichkeit vergehen, allen Zwist und alle Zwietracht enden, allen Haß und alle Leidenschaften von uns weichen, und die Sünden und Vergehungen, die unser Leben beflecken, und um derentwillen wir hier voll Reue und Zerknirschung stehen, mögen Allerbarmer von dir vergeben und vergessen sein.

Mit dem ersten Frühroth des neuen Jahres möge uns das Leben in erneuerter, freundlicher Gestalt entgegentreten, uns und unseren Lieben und Angehörigen Glück und Wohlergehen bringen; Gesundheit und Kraft unserm Körper, Reinheit und Heiterkeit unserer Seele, und Wachsen und Gedeihen unseren Kindern, einen gesegneten, fruchtbringenden Erwerb und einen ungetrübten, ungestörten Genuß, Frieden und Zufriedenheit unserm Herzen, Frieden unsern Häusern und Familien, Frieden und Segen unserm Vaterlande. Amen.