« Gebet eines jungen Mädchens Stunden der Andacht Gebet einer Braut »
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Gebet einer Waise.

„Wenn Vater und Mutter mich verlassen,
nimmt Gott mich auf.“
 (Ps. 27, 10.)

Gott, mein Gott! Alle deine Geschöpfe rufen deinen Namen an in inbrünstigem Gebete, und wie erst muß mein Herz zu dir hineilen, meine Seele an dir hangen in Liebe und Inbrunst, die ich einsam und verwaist stehe auf Erden, deren ganze Hoffnung, Trost und Zuversicht nur in dir, mein himmlischer Vater, ruhet. Die Theuern, denen ich mein Leben danke, deren Liebe meine Jugend geschirmt und geleitet hätte zum Guten, die mein Leben hätten bewahrt mit aller Sorgfalt und Zärtlichkeit, meine Tage hätten umgeben mit Frohmuth und Freuden: – du hast sie zu dir heimberufen in deinen lichten Himmel, und ich bin allein und verwaist geblieben auf dieser dunkeln Erde; hier, wo es so viele Klippen [73] gibt, die ich in meiner Unerfahrenheit nicht zu umgehen wüßte, wo es so viel der Bürden gibt, die ich in meiner Ohnmacht nicht ertragen könnte; so viel der Kämpfe, denen meine Schwachheit unterliegen müßte: so du, Hort der Bedrängten, Beschützer der Waisen, deine väterliche Treue und Liebe nicht über mich walten ließest.

O, Allvater, so verlaß mich nicht in meiner Verwaistheit! Wenn ich des Rathes und der Hilfe bedürftig bin, laß deinen Rath und deine Hilfe mir zu Theil werden; wenn Gefahr mich umgibt, wenn Lockung und Verführung meinen Sinnen schmeichelt und mich zu bethören droht, dann laß mich, Allgütiger, deine warnende und rettende Stimme vernehmen, daß sie mich wecke aus meinem Taumel; und wenn mein Herz mit Sehnsucht und Bangen erfüllt wird, dann, mein Gott, laß mich deine Nähe fühlen, träufle den milden Thau des Trostes in mein verzagtes Herz und lehre mich glauben, daß ich nie und nimmer verlassen bin und allein, daß deine Hand mich leitet durch das Leben, daß du mir tragen hilfst des Lebens Mühen, daß du für mich sorgest, mich bewahrest, mit deiner Liebe mich umgibst. Gib, Allgütiger, daß mein Leben stets ein dir wohlgefälliges sei, laß in mir wach werden die Triebe zum Gutem, laß mein ganzes Wesen von ihnen erfüllt und durchglüht werden, damit keine sündige Neigung, kein frevelnder Gedanke darin Raum und Boden finde und meine Tage in Reinheit und Unschuld des Herzens mir dahin fliehen. Laß mich stets eingedenk sein, daß ich nur durch einen rechtlichen, frommen Wandel meine verklärten Eltern noch im Grabe ehren kann, und nur auf dem Wege der Gottesfurcht zu der Seligkeit gelangen werde, mich einst in den Gefilden der Ewigkeit wieder mit ihnen zu vereinen. Segne, Allgütiger, alle diejenigen, die mir meine Verlassenheit durch Freundlichkeit und Wohlthun erleichtern; lehre mich durch Bescheidenheit und Demuth, durch weises, gefälliges Benehmen mir die Herzen meiner Umgebung gewinnen, und laß mich stets Wohlgefallen finden in deinen Augen, mein Schöpfer, und in den Augen der Menschen. Amen.