Textdaten
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Autor: Woldemar Kaden
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Titel: St. Moritz-Bad
Untertitel:
aus: Die Gartenlaube, Heft 29, S. 477–479
Herausgeber: Adolf Kröner
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 1887
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Scans bei Commons
Kurzbeschreibung:
Albertus Magnus: Ein Gebund oder Buch der Geheimnüssen Alberti Magni: von den Tugenden der Kräuter Steine und etlicher Thiere, S. 155 ff. in: Von den Geheimnissen derer Weiber: wie auch von den Tugenden derer Kräuter, Steine und Thiere: und den Wunderwercken der Welt, Nürnberg : Hoffmann, 1689, UB Kiel
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[477]

St. Moritz-Bad.

Ein Oberengadiner Sommerbild von Woldemar Kaden.

 „Ihr Alle fühlt geheimes Wirken
 Der ewig waltenden Natur,
 Und aus den untersten Bezirken
 Schmiegt sich herauf lebend’ge Spur.“
 Faust, II. Theil.

Das dritte Kraut des Monds wird genannt Chynostacte (Hundsträuble). Sein Safft hilfft ab den Verbitterungen des Magens und der Brust, heilet die Kröpfe, die Ohrmützel und das Zäpflein, indem es sich erweißt ein Kraut des Monds. Die Blüte eben dieses Krauts reinigt die grosse Miltz und heilet sie: weilen es ab- und zunimmt wie der Mond.“ Dies ist ein Receptpröbchen aus dem wunderlichen Werke „Ein Gebünd oder Buch der Geheimnissen Alberti Magni. Von denen Tugenden der Kräuter, Steine und etlicher Thiere. In Verlegung Johann Hoffmann’s, Buch- und Kunsthändlers. Nürnberg 1678“.

Dies wäre denn also ein Werk aus der Zeit der „dunklen Ehrenmänner“, wie Faustens Vater einer war, „der in Gesellschaft von Adepten“ in „schwarzer Küche“ die widrigsten Arzneien braute und über dessen mit ihm in Gemeinschaft verübter Medicinpfuscherei sein Sohn die schwere Anklage ausspricht.

„So haben wir mit höllischen Latwergen
In diesen Thälern, diesen Bergen
Weit schlimmer als die Pest gehaust.“

Ihre Patienten starben, und nur sogenannte Pferdenaturen überwanden die gewaltthätigen ärztlichen Eingriffe.

Campfèr mit Blick auf Crest’alta und Piz della Margna.
Nach einer Photographie von R. Guler, Zürich und St. Moritz.

Dagegen ist es denn nun eine Freude zu sehen, wie wir es so herrlich weit gebracht. Zwar verordnet man den Patienten noch immer Steine, Kräuter und Wasser, aber mit dem Unterschied, daß sie dieselben an Ort und Stelle, im Wald und auf der Wiese, in Thälern und Gebirgen, mit einem Wort in der „lebendigen Natur“ aufsuchen müssen. Die medicinischen Werke und die Apotheker lösten sich in Wasser und Luft auf, und statt der klassificirten tausend Arzneimittel hat man jetzt eine herzerfreuende Klassifikation der Kurorte, die sich in zwei grosse Gruppen theilen: in solche mit Mineralquellen und in solche ohne Mineralquellen. Beide sind zahllos gerade in der Schweiz vertreten, und fast keine Krankheit bleibt ohne ihre helfende Quellnymphe; nur muß man durch seinen Arzt die richtige herausfinden lassen, muß man wissen, ob man einfache Kochsalzquellen, salinische, Natronquellen, Säuerlinge, Kalkquellen, Eisenquellen, Schwefelwasser, jodhaltende oder indifferente Quellen zu gebrauchen und also nach Baden-Baden, Marienbad, Wildungen, Pyrmont, Lippspringe, Rigi-Kaltbad – oder nach St. Moritz zu gehen hat.

Hier heißt es: sage mir, was Dir fehlt und ich werde Dir sagen, was Dir nützt.

Du bist eine schwache Person, bedarfst nach schwerer Ueberarbeitung der Erholung, Deine Ernährung im Allgemeinen wie in Bezug auf einzelne Organe ist gestört, Du leidest an Skrophulose oder Rhachitis; Deine Rekonvaleseenz von der letzten Krankheit ist eine erschwerte, Du bist blutarm, bleichsüchtig, hysterisch, hypochondrisch, verbringst Deine Nächte schlaflos, bist häufig chronischen Magen- und Darmkatarrhen unterworfen – gehe, dies ist der Rath des Arztes, nach St. Moritz-Bad, und nach drei bis vier Wochen wirst Du einen neuen Adam angezogen haben. St. Moritz-Bad, das weiß heute alle Welt, ist das Quisisana aller Heilbedürftigen.

Wo aber liegt dieses Quisisana?

In den vierziger Jahren, wo der Name des „Engadin“ in Europa noch fast unbekannt war, hätten nur Wenige diese Frage beantworten können, heute weiß jeder Sommerfahrgast, wo er das Engadin und mit ihm St. Moritz-Bad zu suchen hat. In heller Begeisterung hebt er seine Hand, deutet nach der Schweiz hinab und spricht:

„Dahinten, da, wo der Piz Bernina, 4052 Meter hoch, ein majestätischer Herrscher, silberweiß in den Aether steigt, wo der Inn seine kräftigen Wogen durch drei krystallklare Seen wälzt, [478] wo die Eisfelder des Morteratsch und Roseg ihren Fächer über die grüne Thalsohle breiten, da liegt das Engadin und an seiner vornehmsten Höhe St Moritz!“

Und der Weg dahin? Eine überflüssige Frage heute, wo Eisenbahn und Post für uns denken und, wie nach Rom, auch in das Engadin gar viele Wege führen. Das Engadin liegt so ziemlich in dem Mittelpunkte Europas und steht mit den umliegenden Ländern durch seine Gebirgspässe und die dieselben überschreitenden, trefflich chausssirten Poststraßen in Verbindung. Sieben prachtvolle Alpenstraßen sind nach und nach entstanden, und wo die Eisenbahn, von Nord, Ost, Süd und West her, hält, wartet die treffliche eidgenössische Post auf den Reisenden, und die genußreiche Fahrt über den Maloja oder über den Albula, den Julier, den Flüela beginnt.

Die genußreiche Fahrt!

Gar mächtig ergreift es unsere Seele, wenn wir, am besten in einer milden Sommernacht, von Chur, der Hauptstadt des Kantons Graubünden, im Postwagen aufgebrochen, an Churwalden vorbei, über die Lenzer Heide und Tiefenkasten, höher und höher hinauf, in immer ödere und wildere Felsenlandschaften hinein, wo die Vegetation nur noch Vertreter in den reizenden Alpenblumen findet, endlich die Paßhöhe des geheimnißvollen Juliers erreichen. Hier erzählen zwei Säulen alte Märchen: von Julius Cäsar oder dem keltischen Sonnengotte Jul, dem in dieser feierlich erhabenen Einöde geopfert wurde. Hier sehen wir beim eiligen Abfall der Strasse nach Silvaplana, bald begrüßt von grünenden Lärchenbäumen, die silberglänzenden Häupter des Oberengadiner Alpenlandes, eines nach dem andern auftauchen, alle in dem reinen schimmernden Gewande ihrer Schneefelder und Gletscher, gesäumt von der breiten Zone ihrer frischgrünen Wälder – und dann blitzt es empor in dem Glanze des Smaragdes: ein See, der von Silvaplana, dann der von Sils, der St. Moritzer; das freundliche Thal thut sich auf, der strömende Inn glitzert und flimmert zwischen den lachenden Ortschaften; die gastlichen Engadiner Häuser, die Kirchen und Hôtels grüßen herauf, und über das Ganze spannt sich ein tiefblauer Himmel, so rein und frisch, daß er mit keinem andern als dem süditalienischen sich vergleichen läßt. Eine entzückende, nach frischem Gras und Nadelholz duftende Luft, kühlend, erquickend und weich zugleich, weht uns an, wir athmen tief und freudig, und unsere Seele füllt sich mit Luft.

Das ist das Engadin aus der Vogelschau.

Villa Planta in St. Moritz.
Nach einer Photographie von R. Guler, Zürich und St. Moritz.

Der Inn, der nördlich vom Malojapaß, am Fuße des Septimers entspringt und von da, aus einer Höhe von gegen 5800 Fuß, bis zur Martinsbruck ungefähr 2500 Fuß Fall hat, durchströmt das Engadin in seiner ganzen Länge, und von ihm wird der alte Name als „Innoberland“ gedeutet: „en co d’Oen“, „in capite Oeni“.

Ueberall in Engadin ist gut wohnen, überall finden wir das unübertroffene Höhenklima, das so unendlich stärkend und belebend auf den Organismus einwirkt. Wir aber setzen uns mit tausend Anderen in St. Moritz-Bad fest, wo die Königin aller Quellen fließt, der das Engadin seinen so bedeutenden Weltruf fast einzig verdankt.

Schon Theophrastus Paracelsus schrieb um 1530 über dies St. Moritzer Wasser: „Ein Acetosum fontale, das ich für alle, so inn Europa erfaren hab, preiß, ist im Engadin zu St. Mauritz; derselbige lauft im Augusto am sauristen; der desselbigen Tranckes trincket, wie einer Artznei gebürt, der kann von Gesundheit sagen.“

Den Quellen zu Ehren, zu Ehren ihrer aus aller Welt zusammenströmenden Gäste haben die Hüter der Quellen, die rührigen Engadiner, um jene her einen Bade-Ort entstehen lassen, der an vornehmen, modern komfortablen Einrichtungen allen, auch den höchsten und verwöhntesten Ansprüchen gerecht wird.

Nicht an allen Kurorten ist, beispielsweise, die Hôtelfrage so trefflich und genügend erledigt, wie in St. Moritz. Allen Abstufungen ist in Bezug auf Lage und Ausstattung in den Hôtels Kurhaus St. Moritz, Hôtel Viktoria, Hôtel du Lac, Hof St. Moritz, Hôtel Engadin, Hôtel Bellevue u. A. Rechnung getragen.

Das Kurhaus ist der älteste Bau, jedoch nur in seiner mit den Quellen und Bädern in gleicher Front liegenden zweiflügeligen Anlage; an diese schließt im rechten Winkel sich der vornehme und schöne Neubau an, der seine Fronten nach Ost und West kehrt, während ein Mittelflügel den großartigen Speisesaal enthält. Von jedem Zimmer des alten wie neuen Gebäudes aus kann man durch gedeckte Gänge zu den Bädern und Trinkhallen gelangen, und auch an sonstigen Bequemlichkeiten repräsentirt das Kurhaus eine kleine komfortable Stadt für sich. Der Gast findet den Arzt im Hause, freundliche Konversations- und Damensalons, einen Koncertsaal, Restaurationssäle, 18 Privatsalons mit Balkonen, 219 Logirzimmer mit über 300 Betten, Post und Telegraph, Bankkomptoir, Bazars, Koiffeur, eine eigene Musikkapelle, Stallungen, Remisen für Privatequipagen; ferner Badekabinen, Douchen, Milchkurstube, zu Ausflügen in die prächtigen Umgebungen stehen jederzeit Equipagen, Reitthiere, Führer und Träger bereit. Dieser gewaltige Apparat aber wird von dem „Maschinenmeister“ in vorzüglicher Weise dirigirt; er funktionirt vollständig geräuschlos. Dieser nicht zu unterschätzende Vorzug ist, neben trefflichster Küche, sämmtlichen St. Moritzer Hôtels nachzurühmen, auch nach dieser Seite hin ist für unsere Nerven gesorgt.

Wer zuerst an diesen Quellen sich Gesundheit getrunken, Niemand weiß es zu künden, selbst die Sage nicht. Das Dorf „San Murezzan“, wie es im Romanischen heißt, bestand aber schon im 11. Jahrhundert. Im 15. Jahrhundert spielte es nur eine Rolle als Wallfahrtsort, und die Quellen flossen noch ungefaßt und unbenützt dem See zu. Die älteste Fassung stammt vielleicht aus der Zeil des dieser Wasser in preislicher Rede gedenkenden Paracelsus. Erst im 17. Jahrhundert ward ein Schutzdächlein über der Quelle errichtet, denn viele Schweizer und Italiener kamen jetzt, um sie zu benutzen. Dann gerieth sie in Vergessenheit. Das war zur Zeit der französischen Revolution und der darauffolgenden politischen Wirren, und die Blüthe, zu welcher der Ort bis 1780 gelangt war, welkte rasch dahin. Am Orte, wo wir heute jene Prachthôtels und reizenden Villen sehen, gab es nichts als eine stallartige baufällige Hütte. Eine Beschreibung des „Kurortes“ vom Jahre 1819 erwähnt drei Wirthshäuser: „den Löwen, dessen Wirth als Schlächter seine Gäste täglich mit [479] frischem Fleisch versehen könne, das Rößli, in welchem die Wirthin als gute und reinliche Köchin walte, und endlich den vorzugsweise von Veltlinern besuchten Adler.“

1830 bildete sich eine Aktiengesellschaft mit gegen 8000 Gulden Kapital. Damit war nichts zu machen und es wurde auch nichts gemacht. Die Zeit für St. Moritz war noch nicht erfüllt.

1852 lief der Kontrakt der alten Gesellschaft ab, und nun begann eine neue Kommission vorzüglicher Männer ihr Verbesserungswerk, dessen vornehmster, wenn auch schwierigster Theil, die Neufassung der Quellen war. Das waren die richtigen „Felschirurgen“, von denen es im „Faust“ heißt:

„Die hohen Berge schröpfen wir,
Aus vollen Adern schöpfen wir.“

Bald wurde aus dem Vollen geschöpft: die Quellen hatten quantitativ und qualitativ ganz ungemein gewonnen. Früher flossen etwa drei Liter in der Minute ab, jetzt 22, die aber bis auf 60 in der Minute erhöht werden können.

Vom Jahre 1853 datirt dann die zweite Blüthe des Kurortes und sein Weltruf, welchen die Männer, denen die Quellen anvertraut wurden, mit allen Kräften zu erhalten und zu erhöhen bemüht sind. Jedes Jahr verzeichnet neue großartige Verbesserungen.

Zwei Hauptquellen sind am Orte, beide sind natronhaltige Eisensäuerlinge, die chemisch sich nicht sehr wesentlich von einander unterscheiden, nur etwa in der Weise, daß die neue Quelle mehr Eisen, die alte etwas mehr kohlensaures Natron enthält.

Hier, wo ich, „des trocknen Tons nun satt“, mir zur Lust von den Reizen der Landschaft schreiben möchte, von Bergen und Wäldern, von Pässen, Gletschern und Seen, muß ich leider abbrechen, denn die Reize der Engadiner Landschaft vermögen Worte schwerlich zu schildern. Besser geben sie die Skizzen unseres Malers wieder.

Er führt uns nur bequeme, auch von schwachen Füßen zu begehende Pfade, zunächst nach der im Arvenwalde liegenden „Meierei“, der Acla Silva, am östlichen Ufer des Sees und nur wenige hundert Schritte von diesem entfernt. Auf dem Wege dahin kommen wir über die Brücke an der See-Ausmündung, unterhalb deren der grüne Inn als Fall in die Chiarnadurasschlucht stürzt, in der vor Zeiten ein Exemplar von „der Drachen alter Brut“ sein Wesen trieb. Von der Meierei wie von dem höheren Schafberg aus hat man einen genußreichen Blick über das Thal, den See, die Ortschaft und die Berge, von denen die berühmten aussichtsreichen Piz Languard und Piz Ot breit sich in den Vordergrund drängen. Ruhig und schön ist hier das Genießen für Genesende bei Wanderungen im Thale, etwa nach dem nahen Dorfe Campfèr am Ufer des gleichnamigen Sees, hinter welchen der Silvaplanasee hervortritt. Die breite Masse, die den Hintergrund dieser Bühne bildet, ist der Piz della Margna. Links auf unserm Bilde (S. 477) ist auf der Spitze eines waldigen Hügels der durch seine schöne Aussicht beliebte Ausflugsort Crest’alta sichtbar. In dieser ganzen Gegend ist gut Hütten bauen: das thaten einst die armen Hirten. Reiche Leute bauen sich Villen, und wer diese Absicht hätte, der nehme als Modell die schöne Villa Planta. Die Familie Planta (= Bärentatze) ist zugleich der Urtypus des von der einstigen wilden Bärentatzigleit zu europäischem Schliff, Wohlstand und Reichthum emporgestiegenen Normal-Engadiners.