Spener und der Pietismus/Zinzendorf und die Brüdergemeine

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3. Zinzendorf und die Brüdergemeine.[1]

Von dem gesetzlichen Geiste, der im Hallischen Pietismus immer mehr die Oberhand gewann, und der vornehmlich den Willen, mehr in negativer beschränkender als schöpferischer Weise in Anspruch nahm, wendet sich Graf Zinzendorf und seine Gemeinde bewußt ab, und der Unmittelbarkeit und Ursprünglichkeit des religiösen Gefühls zu. Er ergreift also damit wiederum das mystische Element des reformatorischen Princips, das im Pietismus zurücktrat, aber nicht mehr in solitärer oder monadischer Form, wie so viele der Mystiker, die in der evangelischen Christenheit neben dem öffentlichen Leben der Kirche einhergehen. Zu dieser Vertiefung ins Innere, zu diesem Geist des Friedens und der Liebe gesellt sich vielmehr nach außen bei den Gaben Zinzendorfs ein lebendigerer Gemeinschaftsgeist und eine stärkere organisatorische Kraft, als sie dem Pietismus eignet.

Zinzendorf geb. 1700, hat in seiner von der Kirche gesonderten und doch von Sectengeist freien reinern Gemeinde eine Organisation geschaffen, die zwar nicht auf große Landeskirchen anwendbar ist, aber sie theils voraussetzt, theils befruchtet. Durch die Vereinigung verschiedener evangelischer Confessionen als verschiedener Tropen in seiner einen Gemeinde hat er vorbildlich eine Union der evangelischen Confessionen hinzustellen gesucht.[2]

Der Stamm der Brüdergemeinde kommt zwar von den mährischen Brüdern her, von Resten aus den hussitischen Verfolgungen, ja von den Waldensern. Aber durch Zinzendorf trat in diesen Stamm bestimmter das lutherische Element ein und wenn gleich die Seinigen sich keiner lutherischen Landeskirche anschloßen, sahen sie sich doch innerlich als Genossen der Augsburgischen Confession an. Zinzendorf hat sich von der Tübinger Facultät[668] examiniren lassen und ist auch ordinirter Prediger geworden. Aber in der Scholastik der lutherischen Theologie finden sie etwas von sectenhafter Enge und suchen Herz und Blick derer, welche ihre Partikularkirche für die alleinige Kirche Christi ausgeben, zu erweitern. Indem die Brüdergemeinde so das Princip der innern Katholicität kräftig vertritt, das keine Partikularkirche verläugnen kann, ohne begrifflich oder innerlich, wie groß auch ihr Umfang sei, sectenhaft und separatistischen Geistes zu werden, hat die Brüdergemeinde eine große und heilige Mission für die evangelische Gesammtkirche erhalten, welche zu verkennen ein Hauptzeichen der falschen Kirchlichkeit ist. Sie hat wie eine stille priesterliche Jungfrau an ihrem Herde die heilige Flamme genährt in Zeiten weit verbreiteter Finsterniß in göttlichen Dingen und Erstarrung des Lebens. In der Innigkeit des Gefühls (das für liturgische Akte, heilige Dichtung und Musik sich fruchtbar erwies, allerdings aber den großen Kirchenstyl mehr in den Familienstyl umsetzte), in der Freude an dem Heilande der Welt schmolzen die Herzen der Gläubigen auch aus verschiedenen Confessionen so zusammen, daß sie auch nach einem Abbild ihrer innern Einheit in ihrem Gemeindeleben verlangten, und während der Pietismus mehr ernster Pädagog ist, so zeigt ihre nicht düstere, sondern still und sanft waltende Liebe positiv organisatorisches Talent und schöpferische Kraft. Die Liebe Gottes fühlen sie in Christo innigst nahe, menschlich gegenwärtig. In Christus, den sie als reinen Menschensohn feiern, weil nach Zinzendorf der Logos selbst in Maria sich erniedrigt hat, um menschlich in ihr wieder aufzuleben, fühlen sie den eigenen Pulsschlag der göttlichen Liebe. Innerlich freiwillig depotenzirter Gott ist Christus dem Zinzendorf in der Wirklichkeit seines Lebens ganz und gar nur Mensch, seit seiner Erhöhung aber Stellvertreter Gottes, gleichsam die ganze Trinität in ihm vereinigt. Am meisten feiern sie das Leiden des göttlichen Menschensohnes, wobei sie allerdings nicht selten in das Spielende gefallen sind. Subjectiv betonen sie, daß das Göttliche sich in den Mittelpunkt des menschlichen Lebens, in das Gefühl herablasse. Selig in diesem frommen Gefühl, im Umgang mit dem Erlöser hat die Brüdergemeinde wenig Interesse für die Theologie; das Glaubensprincip treibt nach dieser Seite wenig Früchte.[3] Aber das frische, freudige Gefühl der Rechtfertigung[669] und allgenugsamen Versöhnung fehlt so wenig bei Zinzendorf, daß es den Mittelpunkt seiner Frömmigkeit bildet. Die Plerophorie seines persönlichen Glaubens und seiner Erfahrung neigt sich sogar zur Emancipation von dem formalen Princip oder doch zu einer Zurückstellung desselben. Er verträgt sehr freie Ansichten über die Inspiration und wagt Aussprüche, die besonders, was den Apostel Paulus betrifft, ausschweifend sind. Wie die schärfere dogmatische Ausprägung, so tritt auch die ethische bei ihm zurück. Im Religiösen läßt er die Seite der Gerechtigkeit und der Heiligkeit und die entsprechenden Gefühle der Ehrfurcht, gleichsam die tiefern Töne des christlichen Akkordes, zurücktreten vor einer gewissen Vertraulichkeit, die in den Liedern und der Cultussprache der Brüdergemeine selbst von Tändelndem nicht frei ist. Eine Zeit lang waren selbst antinomistische Bewegungen in der Gemeinde, die aber glücklich ausgeschieden wurden. Auf diese Mängel machten sie Männer wie E. V. Löscher, Baumgarten in Halle, Fresenius in Frankfurt, P. G. Walch in Jena u. A., besonders tiefgehend und wohlmeinend Bengel[4] aufmerksam. Namentlich Bengels Wort fand eine gute Statt und nach einer Pause sammelte sich die Gemeine zu reinerer Kraft, wovon auch ein Zeugniß auf dogmatischem Gebiet in Spangenbergs Idea fidei fratrum enthalten ist.

Für die ganze evangelische Kirche ist sie aber von hoher Bedeutung erst geworden durch ihren großen Zögling, Fr. Schleiermacher.


  1. Zinzendorf, Ein und zwanzig Discurse über die Augsburger Confession vom Jahr 1747. 1748. Ferner: das Brüdergesangbuch; die Sammlung der Schriften Zinzendorfs. Weitere Literatur siehe bei Schneckenburger, Vorlesungen über die Lehrbegriffe der kleineren protestantischen Kirchenparteien 1863. S. 152 ff.
  2. Vgl. den trefflichen Artikel von Twesten über „evangelische Union“ in Herzogs theol. Realencyclopädie.
  3. Spangenbergs Idea fidei fratrum 1782 fördert die wissenschaftlichen Probleme nicht, temperirt im Gegentheil das Neue, was in Zinzendorf mehr gefühlsmäßig gährte als begrifflich ausgestaltet wurde. Dagegen in der neuesten Zeit beginnt die Brüdergemeine WS: Die auf der nächsten Seite fortgesetzte Anmerkung wurde hier vervollständigt sich auch in dankenswerther Weise an der Arbeit der evangelischen Theologie zu betheiligen. Vgl. Plitts Evangel. Glaubenslehre nach Schrift und Erfahrung, 2 Bde. 1863. 1864, welche manche Gedanken Zinzendorfs, besonders seine christologischen wissenschaftlich zu verwerthen sucht, auf die Trinität freilich das Bild der Familie so überträgt, daß kaum mehr ein Unterschied von Tritheismus übrig bleibt.
  4. Abriß der Brüdergemeinde, 2 Th. 1751. Man dürfe aus der Bluttheologie, der er, Bengel, sonst auch von Herzen ergeben sei, nicht etwas Neues und Einziges machen; sonst werde es so, als ob Jemand das ganze Jahr von nichts als von Marksuppe leben wollte. Er tadelt, daß der Graf alle Leute nach seinem etwas engen Lehrbegriff modle, sein Unternehmen trage etwas Gewächshausartiges an sich. Der Garten selber trage zu keiner Zeit schmackhaftere Früchte in Menge.
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