Spanische Cholera-Impfung

Textdaten
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Autor: Valerius
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Titel: Spanische Cholera-Impfung
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aus: Die Gartenlaube, Heft 28, S. 460
Herausgeber: Ernst Ziel
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Erscheinungsdatum: 1885
Verlag: Ernst Keil’s Nachfolger in Leipzig
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Erscheinungsort: Leipzig
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Quelle: Scans bei Commons
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Spanische Cholera-Impfung.

Gleichzeitig mit den ersten Alarmnachrichten über das Umsichgreifen der Cholera in Spanien drang von der iberischen Halbinsel zu uns die Kunde, daß es einem Arzte in Valencia gelungen sei, ein Mittel zu finden, welches die Menschen vor Cholera-Ansteckung schütze. Dr. Ferran, so berichten die Zeitungen, hat aus dem Kommabacillus eine Lymphe hergestellt, die, dem Menschen eingeimpft, gegen Cholera in ähnlicher Weise wirkt, wie die Schutzpockenimpfung gegen Blattern. Diese Nachricht hat viel Staub aufgewirbelt; die Angelegenheit wurde selbst im spanischen Parlamente verhandelt; das Volk theilte sich, wie immer, in zwei feindliche Lager; die Einen priesen die neue Errungenschaft und verlangten womöglich, daß sie überall in den bedrohten Provinzen eingeführt werde, die Anderen dagegen witterten in dem Vorgehen des Valencianer Arztes große Gefahren für die allgemeine Gesundheit, ja befürchteten geradezu eine noch größere Verbreitung der Seuche durch die noch nicht erprobte Impfung. Die Männer der Wissenschaft, die gelehrten medicinischen Akademien und Gesellschaften, auf deren Urtheil man mit Spannung wartete, hüllten sich indessen in geheimnißvolles Schweigen, aus dem man folgern durfte, daß die Ferran’sche Entdeckung ihre schwerwiegenden Mängel haben müsse.

So sah sich die spanische Regierung, nachdem Tausende bereits geimpft worden, veranlaßt, die weiteren Impfungen eine Zeitlang zu verbieten, und setzte eine wissenschaftliche Kommission ein, welche jedoch ein endgiltiges Urtheil über den Werth der neuen Entdeckung bis jetzt nicht abgeben konnte. Inzwischen glaubte der spanische Arzt für sich selbst etwas thun zu müssen und wandte sich brieflich an den Pariser Gelehrten L. Pasteur mit der Bitte, sich der verfolgten Impfung anzunehmen. In diesem Briefe, den die französischen Zeitungen veröffentlicht haben, nennt er in getragener Rede seine Entdeckung „nur einen kleinen Ring“, der sich von der „großen Nebelmasse“ Pasteur’scher Arbeiten losgelöst habe, und zollt seinem Herrn und Meister den schuldigen Tribut, indem er etwa Folgendes behauptet: „Es giebt zwei große Männer der Welt: Jesum Christum, der uns die seelische Erlösung gebracht, und Pasteur, der uns die Gesetze offenbart, nach welchen die leibliche Erlösung zu erlangen ist.“ Uns verstandeskühlen Menschen der nördlicheren Zone bleibt bei derartigen Ergüssen der Verstand ein wenig still stehen; doch wir müssen dieses ornamentale Beiwerk, mit welchem hier wissenschaftliche Berichte ausgeschmückt werden, mit in den Kauf nehmen, denn wir haben, um im Volksmunde zu reden, mit „romantischen“ Leuten zu thun. Ja, in Südwest-Europa hat man seit Jahren die Lehre von den Bacillen und Bakterien und die von allerlei neuem Impfen geflissentlich für ein Werk romanischen Geistes ausgegeben und sich lange gesträubt gegen die Anerkennung der epochemachenden Entdeckungen Koch’s, welche die untrügliche Marke germanischen Ursprungs trugen.

Es liegt uns aber fern, Gleiches mit Gleichem vergelten und die Verdienste französischer Forscher schmälern zu wollen. Auch ihre Arbeiten dürfen als epochemachend bezeichnet werden und bilden gewiß den Ausgangspunkt segensreicher Forschungen, auf die unsere Zeit mit Stolz zurückblicken wird. Nur muß man die bis jetzt errungenen Resultate mit nüchternem Blick betrachten und alle Schwärmerei und Phantastik hübsch bei Seite lassen.

In diesem Sinne wollen wir auch, um die Ferran’sche Schutzimpfung gegen Cholera würdigen zu können, den Theil der „großen Nebelmasse“ Pasteur’scher Arbeiten näher betrachten, von dem sich jener „kleine Ring“ losgelöst hat.

Eine Krankheit, deren Name an die asiatische Cholera erinnert, die aber sonst zu der gefürchteten Geißel der Völker in keiner Verwandtschaft steht, bildet den Ausgangspunkt unserer Betrachtung. Sie heißt „die Cholera der Hühner“ (cholera des poules) und decimirt nur das Federvieh in Stadt und Land. Für den Landwirth bildet sie eine Quelle großer Verluste und wurde darum von den Thierärzten genau studirt. Gegen Ende der siebziger Jahre fand Toussaint, daß diese Krankheit dnrch einen winzigen mikroskopischen Organismus (Mikroben) verursacht werde. Diesen Mikroben untersuchte Pasteur genauer, züchtete ihn in Bouillon aus Hühnerfleisch und impfte ihn Hühnern ein, die dann stets unter allen Symptomen der Hühnercholera zu Grunde gingen. Bei diesen Versuchen machte er die überraschende Entdeckung, daß diejenigen Mikroben, die der Einwirkung der atmosphärischen Luft oder richtiger gesagt des Sauerstoffs ausgesetzt waren, von Generation zu Generation ihre ansteckende und vergiftende Kraft verloren, so daß Hühner, die mit solchen „geschwächten Mikroben“ geimpft wurden, nur leicht erkrankten und sich von diesem leichten Anfall der Hühnercholera bald erholten. Impfte man nun die wieder genesenen Thiere mit frischem nicht geschwächtem Ansteckungsstoff, so erwies sich derselbe machtlos; die Hühner erkrankten nicht: sie hatten ihre Ansteckungsfähigkeit gegen die sonst tödlich wirkende Krankheit verloren. So wurde experimentell eine neue Art von Schutzimpfung festgestellt.

Die Folgen dieser im Jahre 1880 publicirten Entdeckung waren leicht vorauszusehen. Man spürte nach Mikroben bei allen möglichen ansteckenden Krankheiten, und wo solche schon früher gefunden waren oder erst neu entdeckt wurden, da suchte man aus ihnen „geschwächten Ansteckungsstoff“, wie der technische Ausdruck lautet, zu fabriciren. Man fand verschiedene Mittel, mit welchen die winzigen Organismen in ihren krankheiterregenden und todbringenden Eigenschaften geschwächt werden konnten; man fand, daß dies bald durch den Sauerstoff, bald durch erhöhte Temperatur bewirkt werden konnte, und schritt zuletzt zu dem Versuch, dieses Ziel dadurch zu erreichen, daß man die Mikroben von einer Thiergattung auf eine andere überimpfte. Namentlich durch die letzteren Impfversuche gelangte man zu recht überraschenden Resultaten.

Die Mikroben verhalten sich gar sonderbar den verschiedenen Thiergattungen gegenüber. Da haben wir z. B. einen kleinen Parasiten vor uns, der den Typhus oder den Rothlauf der Schweine verursacht. Impft man ihn in den Brustmuskel einer Taube ein, so stirbt dieselbe unter charakteristischen Krankheitssymptomen in sechs bis acht Tagen. Wird nun das Blut dieser Taube einer zweiten Taube eingeimpft, das Blut der letzteren einer dritten etc., so tritt der Tod viel schneller ein. Schließlich erweist sich das Blut der letzten Tauben selbst für das Schwein viel giftiger, als der stärkste natürliche Ansteckungsstoff, den man Schweinen entnommen, die in gewöhnlicher Weise am Rothlauf erkrankten.

Die Uebertragung dieses Mikroben in das Blut der Kaninchen führt dagegen zu einem ganz andern Resultat. Die zuerst geimpften Kaninchen werden stets krank und gehen meist zu Grunde. Imfst man den Rothlauf ferner von Kaninchen auf Kaninchen, so wird derselbe in seinen schädlichen Eigenschaften für diese Thierart stärker und sämmtliche Impfungen haben den Tod zur Folge. Nimmt man aber das Blut der letzten Kaninchen und impft mit ihm wieder Schweine, so erkranken dieselben nur leicht und werden durch diese Impfung vor weiterer Ansteckung mit dem Rothlauf geschützt.

In ähnlicher Weise wird ferner der Parasit der Tollwuth nicht schwächer, wenn man ihn vom Hunde auf Kaninchen impft, im Gegentheil seine schädliche Wirkung wird durch fortgesetztes Impfen auf andere Kaninchen in hohem Grade verstärkt. Geschwächt wird er dagegen, wenn man ihn vom Hunde auf Affen überimpft, und zwar in dem Grade, daß er schließlich, auf Hunde zurückgeimpft, denselbcn nicht schadet, sie vielmehr für gewisse Zeit gegen die Tollwuth schützt. Allerdings gewinnt er seine früheren Eigenschaften allmählich wieder, wenn man den geschwächten Ansteckungsstoff wiederholt von einem Hunde auf einen anderen überimpft.

Alle diese Thatsachen sind ohne Zweifel für die Wissenschaft von hoher Bedeutung, aber sie sind noch lange nicht so erprobt, daß man auf Grund derselben wagen dürfte, zu ähnlichen Impfexperimenten beim Menschen zu schreiten. Selbst die eifrigsten Anhänger Pasteur’s haben dies bis jetzt wohlweislich unterlassen.

Dr. Ferran war der Erste, der mit, sagen wir, seltenem Muth diesen Schritt gethan. Er selbst ist mit seinen Ergebnissen sehr zufrieden und giebt uns eine Statistik zum Besten, die naturgemäß für ihn spricht. In Alcira, behauptet er, hat er 8794 Personen gegen die Cholera geimpft, sodaß nur 7206 Personen in dem Orte ungeimpft blieben. Viele ließen sich zweimal impfen, was nach Ferran’s Meinung durchaus nothwendig ist. Von denjenigen, die Ferran’s Hilfe nicht in Anspruch genommen hatten, erkrankten 118 und darunter 71 mit tödlichem Erfolg. Von den einmal Geimpften erkrankten nur 14 und darunter nur 3 mit tödlichem Erfolg, während von den zweimal Geimpften nur 8 erkrankten und alle genasen. Man wird wohl abwarten müssen, ob diese Statistik amtliche Bestätigung erhält. Jedenfalls ist sie das einzige bedeutungsvolle Beweisstück, das Ferran bis jetzt vorgebracht hat.

Ueber das Wichtigste an dieser Angelegenheit, über die von ihm präparirte Schutzlymphe drückt sich Ferran sehr unklar und ungenau aus. Er will bei dem Kommabacillus eine neue Entwickelungsform, die Koch entgangen ist, gefunden haben. Um diese Form zu erhalten, züchtet er die Bacillen in Bouillon aus Rindfleisch, die eine Zeitlang auf 37° Celsius erwärmt und dann wieder auf 15° bis 18° abgekühlt wird. Wenn der Kommabacillus den gewünschten Entwickelungsgrad – Dr. Ferran bezeichnet ihn nicht näher – erreicht hat, dann wird mit der Prawaz’schen Spritze eine kleine Menge der Bouillon unter die Haut in derselben Weise eingespritzt, wie man dies bei Morphiuminjektionen thut. In Folge dieser Einspritzung stellt sich bald bei dem Geimpften ein leichter Cholera-Anfall ein, der in der Regel in 24 Stunden vorübergeht. Er wird durch Frostgefühl eingeleitet, dem ein leichtes Fieber, Durchfall und Erbrechen folgen. Hierauf muß man sich nach den Erfahrungen des spanischen Arztes noch einer zweiten Impfung unterwerfen, die erst den gewünschten Schutz gegen die Ansteckung gewährt. Natürlich kann dieser Schutz nur ein vorübergehender sein, und darum empfiehlt Dr. Ferran, daß man sich während einer Cholera-Epidemie von Monat zu Monat wieder impfen lasse.

Bei seinen Landsleuten hat Dr. Ferran viele Gläubige gefunden, und das Vertrauen geht bei der Landbevölkerung soweit, daß man jeden Cholerakraukeu zunächst befragt, ob er sich habe impfen lassen. Ist dies der Fall, dann läßt man den Kranken liegen, da ja der Cholera-Anfall unter diesen Umständen einen leichten Verlauf nehmen muß. Ist aber der Kranke nicht geimpft, dann hält man ihn für verloren und schickt – nach dem Arzt? Nein, der kann ja auch nicht helfen. Man schickt einfach nach dem Geistlichen und Notar.

Aber nicht alle sind so leichtgläubig, und die ziemlich dürftige Beweisführung, die Dr. Ferran bis jetzt geboten hat, veranlaßte selbst den vergötterten Pasteur zu sehr zweifelhaften Aeußerungen über den Werth der spanischen Entdeckung. Kein Wunder darum, daß die ärztlichen Kreise Deutschlands vorläufig sehr zurückhaltend gegenüber den menschenfreundlichen Bestrebungen Ferran’s stehen. Die Wissenschaft kann nur mit klaren Beweisen und Thatsachen rechnen, und wo diese fehlen, dort beginnt das Reich der Hypothesen und Vermuthungen, aus dem für das praktische Leben nur selten ein greifbarer Nutzen, wohl aber oft großer Schaden entspringen kann. Valerius.