Sexual-Kochbücher (Ossietzky)

Textdaten
Autor: Carl von Ossietzky
unter dem Pseudonym
Lucius Schierling
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Titel: Sexual-Kochbücher
Untertitel:
aus: Die Weltbühne. 23. Jahrgang 1927, Nr. 16, S. 640-642.
Herausgeber: Carl von Ossietzky
Auflage:
Entstehungsdatum:
Erscheinungsdatum: 19. April 1927
Verlag: Verlag der Weltbühne
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Erscheinungsort: Berlin
Übersetzer:
Originaltitel:
Originalsubtitel:
Originalherkunft:
Quelle: Die Weltbühne. Vollständiger Nachdruck der Jahrgänge 1918–1933. 23. Jahrgang 1927. Athenäum Verlag, Königstein/Ts. 1978. Scans auf Commons
Kurzbeschreibung:
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[640]
Sexual-Kochbücher
I.

Generationenlang hat die sexuelle Aufklärung in schlechten Holzpapierbroschüren ein unterirdisches Dasein geführt, begehrtes Objekt pädagogischer Recherchen. Heute, wo die geheime [641] Lehre lange aus den Katakomben und anerkanntes Dogma geworden ist, können brave, um das Wohl der Menschheit besorgte Mediziner diesen Wandel zu allerletzt erfassen und bemühen sich in dicken Wälzern, Zeitgenossen, die längst vier B greifen können, in die Tonleiter einzuweihen. So ist eine reichhaltige Sexualliteratur entstanden mit prätentiös ausgebreiteten Erkenntnissen, über die jeder Quartaner grinst, – eine Literatur, die ein gereifter Praktikus höchstens benutzt, um einmal zu kontrollieren, ob seine façon d’aimer[1] dem heutigen Stand der sexuologischen Wissenschaft entspricht.

Man liest diese Bücher mit gleichem Vergnügen wie eine Dissertation über gestörte Abdominalfunktionen. Die Herren Autoren sind feste Charaktere mit bohlendicken Prinzipien; es gelingt ihnen mühelos, auch den leisesten Hauch von Grazie fernzuhalten, um nicht in den Geruch von Lüsternheit zu kommen. Wenn sie auch auf hunderten von Seiten immer wieder den einen Moment behandeln, immer nur den einen Moment – lüstern sind sie nicht, und es wird ihnen nicht eine Sekunde mulmig. Und ob sie auch die erregendsten Vorgänge schildern, niemals verläßt sie der launetötende akademische Ernst. Es ist, als ob ein ungeschickter Feuerwerker seine Raketen mit nassen Pfoten abbrennen will.

II.

Herr Dr. med. Heinrich F. Wolf in Wien hat ein Buch erscheinen lassen: „Strategie der männlichen Annäherung.“ Welch herrliches Thema! Wieviel wäre da aufzudecken, wieviel unbewußte Komödie zu entlarven! Das wäre Aufgabe nicht grade für einen berufsmäßigen Gefühlszersäger, sondern für einen passionierten Beobachter der menschlichen Oberfläche, für einen heitern Kenner des menschlichen Gesichts in allen Widerspiegelungen der Empfindung. Unser Liebesstratege hat jedoch die Bücher eingehender studiert als die Menschen. Wie ein Symbol seiner erotischen claire voyance[2] steht ein Literaturverzeichnis voran, an dem benützte Quellen zu ersehen sind. Wo hat sich der fleißige Herr Doktor über die Liebe unterrichtet? Wir lesen: Schönherr: Der Weibsteufel, Sudermann: Im Zwielicht, Porto-Riche: L’Amoureuse, Mommsen: Römische Geschichte, Anton Menger: Sozialistisches Staatsrecht. So bereitet sich ein Beschreiber galanter Dinge vor. Das Ergebnis: er charakterisiert nicht, sondern katalogisiert. Er teilt die Männer ein in Kluge, Dumme, Sentimentale, Rohe, Anständige und Tückische, die Frauen in Emanzipierte und Primitive. Ohne zu ahnen, daß das Leben alltäglich solche papierne Typik übern Haufen wirft, und der Zustand der Verliebtheit schon vollends sich um die Masken der Stegreifburleske nicht kümmert. Das ist ja die wunderliche Magie der Erotik, daß sie die Temperamente auswechselt, dem Klugen einen Eselskopf aufsetzt, den Grobian lyrisch gurren, den Schwachmatikus kraftmeiern läßt, den grundehrlichen Kerl plötzlich zum ganz gemeinen Luder macht. Diesen Witz hat der Herr Doktor nicht erfaßt, denn das wird sich vielleicht in einem Alkoven[3] ahnen lassen, aber nicht vor Mengers Sozialistischem Staatsrecht, und deshalb wird dieser Stratege, der als Zweck seines Buches nennt: der Frau die mangelnde Erfahrung zu ersetzen und sie für ihre Stellung im Kampfe mit dem Mann zu waffnen, seine Schutzbefohlenen, soweit sie überhaupt für den Kampf mit dem Mann gewaffnet sein wollen, in eine höchst blamable Marneschlacht[4] hineinführen. Denn der Mann, dem sie etwa begegnen, wird auch ohne Kochbuch die uralte Praxis der Küche beherzigen: Man nehme ...

III.

Es ist etwas viel zur Theorie der Sexualität geschrieben worden, und sowohl der findige Psychoanalytiker, der sich zumutet, [642] ein Seelenleben wie einen Kehlkopf auszupinseln, als auch der gelehrte Physiologe haben aus der allereinfachsten Sache der Welt mit deutscher Gründlichkeit sofort eine Weltanschauung gemacht. Warum so viel Wichtigkeit? Der Zerfall der alten Bürgermoral hat das Leben freier und freundlicher gemacht. Man geht nicht mehr mit Nietzsche-Zitaten als Übermensch ins Bett, um als verdüsterter Strindbergbüßer wieder in die Pantoffel zu fahren. Heute sind wir auf dem Wege, den Schwafel von Seelenproblematik durch den medizinischen zu ersetzen. Diese schreibenden Herren Doktoren sind gewiß tüchtige und gewissenhafte Rezeptverfasser, und ihr langweiliger Stil läßt unbedingt an ihre handwerkliche Zuverlässigkeit glauben. Man kann ihnen blind die Nase anvertrauen, aber unterhalb des Magens hört ihre Zuständigkeit auf.

Lucius Schierling


Anmerkungen (Wikisource)

  1. façon d’aimer, (franz.) Art zu lieben
  2. claire voyance, (franz.) Hellsichtigkeit, Scharfsinnigkeit
  3. Alkoven, Bettnische, Wandbett
  4. in der Marneschlacht erzwangen die französisch-britischen Truppen im September 1914 den Rückzug der deutschen Truppen