Der reinste, glänzendste Stern am Himmel der ruhmreichen
Geschichte Oesterreichs, Kaiser Franz I. und
Maria Theresias Sohn und Liebling, später der Stolz
und die Bewunderung der ganzen deutschen Nation.
Die Erziehung Joseph’s leiteten tüchtige Männer, ausgezeichnet
zum Theil durch Wissenschaft, zum Theil durch
Feldherrengaben und Kriegsruhm. Fürst Karl Batthyani
als Obersthofmeister, Staatssecretair Joh. Christ. von
Bartenstein, die Jesuitenväter Franz und Porchhammer
u. a. Doch fühlte nicht minder des strebenden
Jünglings frischer Geist den Druck der oft allzueng
gezogenen Bande, wie Preußens großer Friedrich sie
gefühlt, der des künftigen Kaisers leuchtendes Vorbild
wurde, zu dem es ihn voll Bewunderung und Verehrung
zog, so daß er ihn im Jahre 1769 besuchte.
König Friedrich II., der große Gegner Maria Theresias,
erwiederte diesen Besuch im darauf folgenden Jahre im
Lager zu Mährisch Neustadt, und so zeigten beide
Monarchen dem staunenden Europa ein Beispiel, das
in neuester Zeit ein bedeutungreiches Echo fand.
Das Jahr 1764 hatte Joseph die römische Königskrone gebracht, das folgende setzte ihm die Kaiserkrone auf das Haupt, aber noch hielt die erhabene Mutter die Zügel der Lenkung ihrer Staaten fest in der starken Hand, wie sie es gewohnt war, denn der vom Herzen treffliche Kaiser Franz I. war als Regent nur ein Schatten. Erst als auch über Maria Theresia der stille Genius 1780 die Fackel gesenkt, konnte Joseph II. sagen: nun bin ich Kaiser. Sein Geist flog seiner Zeit auf Adlerflügeln voran und voraus; Ideen, welche nach und nach in den Völkern Wurzel faßten, und erst nach seinem leider viel zu frühen Ableben allgemeinere Geltung gewannen, waren ihm schon gekommen, hatte er schon verwirklichen wollen mit seinem warm für das Wohl der Menschheit schlagenden Herzen: religiöse Duldung, Glaubensfreiheit, Befreiung der Israeliten vom Kettendruck christlicher Unduldsamkeit und grausamer Härte, Tilgung des Aberglaubens durch Beschränkung und Unterdrückung von dessen Nährquellen, aber ach, alle
„Die ihr Gefühl, ihr Schauen offenbarten,
Hat man von je gekreuzigt und verbrannt!“
Ludwig Bechstein: Zweihundert deutsche Männer in Bildnissen und Lebensbeschreibungen. Georg Wigand's Verlag, Leipzig 1854, Seite 205. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zweihundert_deutsche_M%C3%A4nner_in_Bildnissen_und_Lebensbeschreibungen.pdf/205&oldid=- (Version vom 15.9.2022)