Gottfried Hermann ist in Leipzig geboren, wo sein
Vater Senior des Schöppenstuhls war. Das lebhafte,
feurige Temperament, welches er von seiner Mutter,
die aus einer französischen Familie stammte, geerbt
hatte, sprach sich schon im Knaben aus, der bei
großer Gutmüthigkeit doch schwer zu bändigen war,
und obgleich von zarter Konstitution alle Leibesübungen
leidenschaftlich trieb, vom Stillsitzen bei den
Büchern nichts wissen mochte und durchaus Soldat
werden wollte. In seinem zwölften Jahr wurde er
der Obhut Carl David Ilgens übergeben, eines
Mannes von unbeugsamer Festigkeit des Willens, ernster
Strenge bei herzlichem Wohlwollen und gründlicher
Gelehrsamkeit, der später als Rector in Schulpforte
viele Jahre hindurch segensreich gewirkt hat. Diesem
gelang es den Feuereifer des Knaben auf das Studium
der alten Sprachen zu lenken und er verstand es, ihn
zu eigener Selbstthätigkeit anzuregen und zu strengster
Selbstprüfung anzuhalten. In zwei Jahren war er
reif geworden die Universität zu beziehen, wo er nach
dem Willen des Vaters Jurisprudenz studiren sollte
und nur mit Mühe erreichte, sich der Philologie widmen
zu dürfen. Hier fand er an Friedrich Wolfgang
Reiz einen Lehrer, der für ihn geschaffen schien. Dieser,
ein Mann von tadelloser Rechtschaffenheit, von
unbestechlicher Wahrheitsliebe, im Besitz der genauesten
und gründlichsten Gelehrsamkeit, erkannte das hervorragende
Genie des Jünglings und, ohne ihn zu beschränken,
leitete er ihn nur an, durch gewissenhafte und
sorgfältige Forschung den angeborenen Scharfsinn und
die glückliche Divinationsgabe zu bilden und zu beherrschen.
Unter seiner Zucht gab sich Hermann ganz der
Beschäftigung mit den Alten hin, mit welcher er, überall
bemüht auf den Grund der Sache zu gehen, ein eifriges
Studium der kantischen Philosophie verband. Uebrigens
war er bei angestrengtem Fleiß keineswegs ein Stubensitzer,
sondern nahm am Verkehr mit Kommilitonen
und in geselligen Kreisen gern und lebhaft Antheil, und
folgte seiner Neigung zu starken Leibesübungen, die ihn
namentlich zu einem leidenschaftlichen und kunstgerechten
Reiter bis in seine letzten Lebensjahre machte. Nach
vollendeten Universitätsstudien habilitirte er sich als Privatdocent
Ludwig Bechstein: Zweihundert deutsche Männer in Bildnissen und Lebensbeschreibungen. Georg Wigand's Verlag, Leipzig 1854, Seite 175. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zweihundert_deutsche_M%C3%A4nner_in_Bildnissen_und_Lebensbeschreibungen.pdf/175&oldid=- (Version vom 14.9.2022)