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empfinden muß, ist, irgend einen Maßstab anzulegen. Wo kein Stil ist, ist jeder Maßstab unmöglich. Die armen Rezensenten müssen sich offenbar herbeilassen, die Gerichtsberichterstatter der Literatur zu spielen, die Reporter der Taten, die sich die Gewohnheitsverbrechen in der Kunst leisten. Man hat manchmal gesagt, sie läsen die Werke nicht, die sie besprechen. So ist es. Oder so sollte es wenigstens sein. Wenn sie sie ganz und gar läsen, würden sie zeit ihres Lebens vollendete Misanthrope oder wenigstens Weibanthrope, wie jüngst ein nettes Fräulein Doktor so lieblich gesagt hat. Es ist auch nicht nötig. Um die Qualität und den Jahrgang eines Weines zu prüfen, braucht man nicht das ganze Faß auszutrinken. Es muß ganz leicht sein, in einer halben Stunde zu sagen, ob ein Buch etwas taugt oder nicht. In Wahrheit genügen zehn Minuten, wenn jemand den Instinkt für Form hat. Wer braucht durch ein dummes Buch zu waten? Man kostet es, und das ist völlig genug – mehr als genug, sollte ich meinen. Ich bemerke, daß es in der Malerei ebenso wie in der Literatur viele ehrenwerte Handwerker gibt, die sich gegen jede Kritik wenden. Sie haben völlig recht. Ihre Hervorbringungen stehen in keinerlei geistigem Verhältnis zu ihrer Zeit. Sie gewähren uns kein neues Element der Freude. Sie bringen keinen neuen Aufschwung des Denkens oder der Gefühle oder der Schönheit hervor. Man sollte nicht davon reden. Sie sollten der Vergessenheit gelassen werden, die sie verdienen.

Ernst: Aber, Liebster – entschuldige, daß ich dich unterbreche – mir scheint, deine Leidenschaft für die Kritik führt dich unerlaubt weit. Denn alles in allem mußt doch auch du zugeben, daß es schwerer ist, eine Sache zu machen, als über sie zu reden?