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an dem elfenbeinernen Horn, um den Rhythmus vollkommener und die Intervalle weniger schroff zu machen. Und doch war er groß, und wenn er schon aus der Sprache gemeinen Lehm machte, er formte Menschen daraus, die leben. Er ist von allen, die nach Shakespeare kamen, das shakespearischste Wesen. Wenn Shakespeare mit Myriaden Lippen singen konnte, so konnte Browning in tausend Zungen stammeln. Selbst jetzt, während ich spreche, und nicht gegen ihn, für ihn spreche, gleiten seine Gestalten wie in festlichem Aufzug durchs Zimmer. Da naht sich Fra Lippo Lippi; seine Wangen brennen noch vom heißen Kuß einer Dirne. Dort steht der furchtbare Saul; und die Saphire glänzen strahlend in seinem Turban. Mildred Tresham ist da, und der haßerfüllte gelbe spanische Mönch, und Blougram, und Ben Esra, und der Bischof von St. Praxed. Sebald, der Pippa vorübergehen hört, blickt auf die verfallenen Züge Ottimas und ekelt sich vor ihrer und seiner Sünde und vor sich selbst. Bleich wie der weiße Atlas seines Gewandes lauscht der traurige König mit träumenden verräterischen Augen, wie der getreue Strafford zum Blutgerüst schreitet, und Andrea erschaudert, wie er den Pfiff des Vetters im Garten vernimmt und sein edles Weib hinabgehen heißt. Ja, Browning war groß. Und als was wird er im Gedächtnis bleiben? Als Dichter? O nein, nicht als Dichter! Er wird im Gedächtnis bleiben als Novellist, als der vorzüglichste Novellist vielleicht, den wir hatten. Sein Sinn für die dramatische Situation war unvergleichlich, und wenn er schon seine eigenen Probleme nicht lösen konnte, so konnte er sie doch aufstellen, und was braucht ein Künstler mehr? Als Schöpfer von Charakteren kommt er gleich hinter dem, der Hamlet gemacht hat. Wäre er nicht so unklar

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Oscar Wilde: Zwei Gespräche von der Kunst und vom Leben. Insel, Leipzig 1907, Seite 60. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zwei_Gespr%C3%A4che_von_der_Kunst_und_vom_Leben.pdf/64&oldid=- (Version vom 1.8.2018)