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hoch stellt? Was ist uns die Erleuchtung Philos, der Abgrund Eckharts, das Gesicht Böhmes, der monströse Himmel selbst, der Swedenborgs geblendeten Augen geöffnet war? Solche Dinge sind weniger als der gelbe Trichter einer einzigen Narzisse auf dem Felde, viel weniger als die geringste der sichtbaren Künste; denn gerade so wie die Natur Materie ist, die zum Geiste emporkämpft, so ist die Kunst Geist, der sich mit den Mitteln der Materie zum Ausdruck bringt, und so spricht sie selbst in ihren niedrigsten Erscheinungsformen zu Sinnen und Seele zugleich. Für das ästhetische Temperament ist das Unbestimmte immer abstoßend. Die Griechen waren ein Künstlervolk, weil sie ohne den Sinn fürs Unendliche auskamen. Wie Aristoteles, wie Goethe, nachdem er Kant gelesen hatte, sehnen wir uns nach dem Konkreten, und nichts als das Konkrete kann uns Genüge tun.

Ernst: Was also hat zu geschehen?

Gilbert: Mir scheint, daß wir mit dem Fortschreiten des kritischen Geistes imstande sein werden, nicht bloß unser eigenes Leben zu verwirklichen, sondern das Gesamtleben der Menschheit, und so uns völlig modern zu machen, im wahren Sinne dieses Wortes. Denn für wen die Gegenwart das einzige ist, was ihm gegenwärtig ist, der weiß nichts von der Zeit, in der er lebt. Um das neunzehnte Jahrhundert zu verwirklichen, muß man jedes Jahrhundert verwirklichen, das ihm vorhergegangen ist und zu seiner Entstehung beigetragen hat. Um überhaupt etwas von sich selbst zu wissen, muß man alles von andern wissen. Es darf keine Stimmung geben, mit der man nicht mitfühlen kann, keine gestorbene Art der Lebensführung, die man nicht lebendig machen kann. Ist das unmöglich? Ich glaube nicht.