denn von einer Königswahl war damals keine Rede, und seit der letzten Wahl waren bereits 20 Jahre verflossen. Unmöglich konnte damals irgend jemand behaupten, daß heute, auch wenn man dem Worte die weiteste Bedeutung beilegen wollte, irgend etwas bei der Königswahl so oder so gehandhabt werde. Und selbst wenn man das „heute" auf eine Erinnerung an die letzte Wahl, an die von 1440, beziehen wollte, so böten die Vorgänge bei dieser Wahl keinerlei Anlaß zu jener Behauptung, denn damals war der Inhaber der böhmischen Kurstimme geladen, und die böhmischen Stände schickten an Stelle des zurzeit fehlenden Königs eine Wahlgesandtschaft zum Wahltage nach Frankfurt, welche sich nach einigen Zwischenfällen an der Wahl Friedrichs III. beteiligte. Jene Worte aber können nicht nur unmöglich im Jahre 1460 geschrieben sein: sie können überhaupt nicht ursprünglich in einem Zuge mit den sie umgebenden Sätzen geschrieben sein, da sie ganz und gar nicht in deren Zusammenhang passen, sondern denselben in auffallender Weise stören. Der vorhergehende Satz, auf den sich die Worte beziehen, spricht zweierlei aus: die Nichtberufung des Böhmen als Regel und die Berufung als Ausnahme, wenn die Stimmen der übrigen Kurfürsten geteilt sind. Es ist nun wohl ohne weiteres klar, daß sich das sic practicatur nur auf die Regel, nicht auf die Ausnahme, der Ladung zur Entscheidung einer zwiespältigen Wahl, einen Fall, der noch nie eingetreten war, beziehen kann. Dann aber stört der Satz den Zusammenhang, da das fragliche Quod nicht an die Regel, sondern allein an die Ausnahme anknüpft: ein ketzerischer König soll auch in dem Ausnahmefalle nicht berufen werden. Die fraglichen Worte, die sich nicht organisch in den Zusammenhang fügen, können nur ein späterer Zusatz sein, etwa eine Randglosse, sei es des Verfassers selbst oder eines Lesers. Dafür spricht auch die glossenartige Fassung, welche mit dem Stil der übrigen Sätze nicht im Einklang steht.
Auch die Entstehungszeit des Zusatzes läßt sich mit Sicherheit bestimmen. Vor 1490 muß er entstanden sein, da die älteste Handschrift in diesem Jahre bereits vorhanden war. Zwischen 1460 und 1490 aber ist nur einmal der Fall eingetreten, daß der Böhmenkönig nicht zu einer Wahl geladen wurde. Es geschah das bei Gelegenheit der einzigen in diesen Zeitraum fallenden Königswahl, der Maximilians im Jahre 1486. Damals wählten die zu Frankfurt um den Kaiser auf einem Reichstage versammelten Kurfürsten, ohne den König von Böhmen, der an dem Tage nicht teilnahm, zur Wahl zu laden, des Kaisers Sohn Maximilian zum römischen König. Dies ist überhaupt der einzige sichere Fall, daß die böhmische Kur bei der Berufung zur Königswahl nicht berücksichtigt war; und dieser Fall allein kann Anlaß gegeben haben zu der Bemerkung: et sic hodie practicatur.
Besonders nahe lag es aus diesem Anlaß, eine solche Bemerkung etwa am Rande einer Handschrift des Werkes hinzuzufügen, weil die Ausschließung des Königs Wladislaw von Böhmen von der Königswahl größeres Aufsehen erregte. Der König nahm die Nichtbeachtung seines guten Rechtes nicht ruhig hin, sondern erhob energisch Einspruch und drohte sogar mit Krieg, wenn man sein Recht nicht anerkennen, gegen die Wiederholung
Karl Zeumer: Die Goldene Bulle Kaiser Karls IV. (Teil 1). Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1908, Seite 254. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeumer_Die_Goldene_Bulle.pdf/272&oldid=- (Version vom 1.8.2018)