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Die Unschuld.


Die Unschuld hatte dadurch gefehlt, daß sie recht gethan hatte, und ward deßhalb vor Gericht gefordert.

Unerschrocken trat sie vor dasselbe, weil sie die Richter nach sich selbst beurtheilte; sie sahe diesen, jenen, einen dritten an, die sie einzeln für gute Männer gehalten hatte, und konnte nicht anders denken, als daß sie jezt verbunden auch die billigsten Richter seyn müßten.

Da waren Gottesläugner, die im Ruf einer unabläßigen Andacht standen; Blutsauger, die das Recht sprechen, Barbaren, die alles wissen, Blinde, die von Farben urtheilen sollten. Denen allen vertrauete sich die Unschuld sicher an; ach aber, wie sehr hatte sie sich betrogen!

Sie hatte die Guten gelobt, die Bösen getadelt; und sahe jetzt, daß die, die sie für die Guten gehalten hatte, sich des Tadels der Bösen

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter (Fünfte Sammlung). Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1793, Seite 62. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_V.djvu/78&oldid=- (Version vom 1.8.2018)