Seite:Zerstreute Blaetter V.djvu/63

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.
Das Todtengericht.


Minos, der gerechte Richter der Todten, erkennt mit großem Scharfsinn den menschlichen Verbrechen ihre Strafen zu. Oft gehn die Seelen aus dieser Welt ungestraft hinunter; sobald sie aber vor ihm erscheinen, sieht er an ihren Flecken, was jede verübt hat, und spricht sein Urtheil. Die Mächtigen werden gemeiniglich den ungeduldigsten Herren zu Theil, und lernen gehorchen. Vielwissende Schwätzer verstummen, bis sie von Weisheit bersten. Hochmüthige gerathen in den Koth; Lügnern werden die Zähne sehr unsanft entnommen; Wohllüstige peinigt ein ewiges Eis, Verläumder ein ihnen verhaßter Glanz; Neidige müssen bei Glücklichen wohnen und sich an ihrer Seligkeit quälen; Geizige nagt ein unersättlicher Hunger; Neugierige irren in ewiger Nacht; Heuchler peiniget die lautredende Wahrheit. Und wer könnte jede Art der Strafen erzählen?

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter (Fünfte Sammlung). Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1793, Seite 47. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_V.djvu/63&oldid=- (Version vom 1.8.2018)