ein „Herr erbarme dich unser“, ein klagendes, ängstliches Misererc. Für alle diese Gemüthszustände und Situationen des Lebens hatten die Psalmen einen reichen Vorrath; und da die Kirche oft in Umstände gerieth, in denen sie solcher Angstgebete nöthig hatte, so ward dieser Vorrath der Psalmen vielfach gebrauchet. Daher also die Bußpsalmen, die girrende Stimme der Turteltaube in den Hölen und Steinklüften, die langen, klagenden Litaneyen mit dem wiederholten Echo des Kyrie Eleison; daher die Seufzer um Errettung, die Gesänge der Hoffnung eines andern Lebens. Auf Glaube und Zuversicht war die christliche Kirche gegründet; Glaube und Zuversicht erheben und beflügeln sich am stärksten mit dem Gesange der Andacht. Ueber den Gräbern der Entschlafenen tönte nicht heidnische Verzweifelung und Furcht fürm Todtenreiche; sondern sanfte Trauer und fröhliche Hoffnung, Hoffnung des Wiedersehens, des ewigen Zusammenlebens mit einander.
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter (Fünfte Sammlung). Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1793, Seite 301. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_V.djvu/317&oldid=- (Version vom 1.8.2018)