Seite:Zerstreute Blaetter Band I 341.jpg

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

gleich nur Erscheinungen sind, etwa hervorfühlen, heraustappen möchten; wo abermals also der Genuß nur durch einen Wahn von Vereinigung statt hat. Schwacher, aber glücklicher Wahn! Das Auge zerstört das Wesen des geliebten Gegenstandes nicht, eben weil es demselben nicht in sich hinüber zu ziehen vermag. Dünkt dieser also dem Getäuschten ein Quell unerschöpflicher Reize: wohl ihm und dem Glücklichbetrognen, der sein genießet! Er schöpft immer, und schöpft nie aus, weil er nie ganz und innig schöpfen konnte: die geliebten Bilder fliehn vor ihm und bleiben ihm doch gegenwärtig: er lebt vom süßen Traum des sichtbaren, geistigen Wahnes.

     Unvermerkt kommen wir auf die dem Schein nach dauerndste, aber auch für unsre Sterblichkeit am wenigsten befriedigende Art des Genusses, den Ideengenuß körperlicher Schönheit, oder wie es die Schwärmer nennen, den Genuß platonischer Liebe. Plato giebt zu ihr seinen Namen unrecht her: denn er redet von geistigen Eigenschaften, die mit dem Geist genossen werden

Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 318. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_341.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)