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Morgen unsrer Tage, die Knospe unsers Erdedaseyns, wie bald verwelkt die Knospe, wie bald ist der Morgen vorüber! Nun wird der Tag schwül, es folgt die Zeit der Mühe des Lebens; allmählich naht der Abend, und die Sonne neigt sich. Der Mensch blüht ab, wie er aufblühte; er vergißt seine eigne Gedanken, er verzagt an seinen eignen Kräften, er stirbt eh er stirbt, und freut sich daß er sein Grab findet. Dies ist der unwandelbare Kreis der Tages- der Jahreszeiten, der Lebens- und Menschenalter auf unsrer Erde. Und Sie wollten den Unglücklichen tausendmal den Kreisgang gehen lassen, wenn er sich freuet, ihn nur Einmal durchgekommen zu seyn? Sie wollten die Natur ewig, wie Penelope, ihr Gewebe weben und neu weben lassen, damit sies nur wieder zerstöre? Unglückliche Menschheit mit allen ihren Anlagen, Hoffnungen und Kräften! Schwachsinnige Penelope, um deren Verstand ich wenigstens nicht buhlen möchte!

     Ch. Aber, mein Freund, der Baum, die Blume, der Tag, hat nicht alles einerley und

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 247. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_270.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)