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Unbedachtsam in meiner Jugend, vermählte ich mich jenem alten Titon, aus dessen Armen ihr mich täglich so früh emporeilen sehet. Ihm und mir zur Strafe ward ihm seine graue Unsterblichkeit ohne Jugend, die auch mir so lange ich bey ihm bin, Glanz und Schönheit raubet. Deswegen eile ich so früh an mein kurzes Geschäft die Schatten zu verjagen, und verberge mich Tagüber im Stral der Sonne, bis ich von ihm, so bald er mich wieder erblickt, mit Thränen und Schaamröthe in sein graues Bette hinuntergezogen werde. Spiegelt euch, ihr Mädchen, an meinem Beyspiel, und glaubt nicht, daß die schönste von euch auch die glücklichste seyn müsse, wenn sie nicht auch so weise als schön ist und sich einen ihr gleichen Gatten zur Glückseligkeit wählet.

     Aurora verschwand; aber ihr Bild glänzte fortan den Mädchen in jeder Thräne des Thaues wieder. Sie priesen sie nicht mehr als die glücklichste der Göttinnen, weil sie die schönste sey, und wurden weise durch ihr Exempel.

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 168. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_191.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)