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Die Morgenröthe.

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Eine Schaar frölicher Mädchen begieng mit Tänzen und Lobgesängen das Fest der Aurora. „Schönste, seligste Göttin, sangen sie, du in Rosengestalt, in ewiger Jugendschönheit. Täglich erwachest du neu, gebadet im Quell des Genusses und der erquickenden Blüthe!“ – Als eben, da die Sonne aufgieng, Aurora ihr Gespann zu ihnen lenkte und vor ihnen stand, die schönste, aber nicht die glücklichste aller Göttinnen. Thränen waren in ihren Augen, und der Duft des Schleiers, den sie von der Erde gezogen hatte, lag wie eine feuchte Wolke vor ihrem leuchtenden Rosenantlitz.

     Kinder, sprach sie, die ihr mich mit Lobgesängen ehret, eure jugendliche Unschuld hat mich hergezogen, euch mich wie ich bin zu zeigen. Ob ich schön sey? sehet ihr selbst; ob ich glücklich sey? mögen euch die Thränen sagen, die ich täglich in den Schooß meiner Schwester Flora weine.

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_190.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)