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incommensurable Weise. Wollt ihr die Wirkungen eurer Kunst aufs reinste und ohne allen Wortstreit sehen: so betrachtet einen Blinden und Tauben, und seht, was beyden versagt sey? Der Taube mag unendlich feiner sehen und unterscheiden; für die Gesellschaft ist er immer dumm, und in seinem Innern Freudenloser: ihm fehlt der Sinn und die Kunst, die unmittelbar zu seinem Herzen reden. Der Blinde ist ein armer Mann, vielleicht auch arm, an gewissen feinen Unterschieden, Gestalten und Abmessungen, die nur der Sinn und die Kunst des Gesichts gewähren; er hat indessen das Saitenspiel aller Empfindungen und Leidenschaften in sich, er kanns tönen lassen, wenns ihm gefällt, und sich in seiner dunkeln Einsamkeit eine Welt voll Harmonie und Freuden schaffen. Oft waren Blinde große Tonkünstler, große Dichter; ob aber Taube bey aller genauen Nachahmung eben so geistvolle Zeichner gewesen? möget ihr selbst wissen. Gnug, ihr seyd beyde meine Töchter; du Malerey, die

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Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 163. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_186.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)