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gegeben, mit offenem Munde zu reden; Gesang floß von ihren Lippen: Gesang spricht auch von ihren Steinen. Und wie das Epigramm, so hatte jede Gattung der Gedichte ihr Sylbenmaaß, dem die Nachfolger älterer Dichter gern treu blieben. Die Epopee tönte im prächtigen Hexameter daher: das Theater gieng den Trist des Kothurns[1] auch in Sylbenmaaßen der Gespräche und Chöre: das Lied Anakreons hatte seine liebliche Weise; wer könnte eine schönere zu ihm erfinden? Lehrgedichte und Idyllen sprachen in einem ernsthaften oder sanftern Hexameter: die Elegie weinte in einem süßgebrochenen Fall der Töne und das Epigramm schloß sich an diese, wahrscheinlich weil seine erste und gemeinste Materie traurigen oder zärtlichen Innhalts, Schrift auf Gräbern oder Seufzer der Liebe waren. Indeß auch dem frohesten Inhalt kann sich das Sylbenmaaß des Epigramms anschmiegen: Der Hexameter giebt ihm Aufflug, Fülle und Würde, der sodann der Pentameter zwischen tritt, und sie zu einer sanften Ründe, zu einer vollendenden Kürze umbiegt,


  1. Vorlage: Kothurus


Empfohlene Zitierweise:
Johann Gottfried Herder: Zerstreute Blätter, Erste Sammlung. Carl Wilhelm Ettinger, Gotha 1785, Seite 126. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zerstreute_Blaetter_Band_I_149.jpg&oldid=- (Version vom 1.8.2018)