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Lindner’s, dass die kirchlichen Wahlen durch die germanischen Tendenzen nach Einheitswahlen bestimmt wurden, hat viel für sich[1]. Noch im 13. Jahrhundert und wohl auch späterhin stossen wir auf Gebräuche, die an den Gedanken des germanischen Majoritätsprincips erinnern[2].

Theoretische Erörterungen über die ganze Frage setzen erst mit der Entfaltung einer selbständigen canonistischen Wissenschaft ein. Die ersten wissenschaftlichen Bearbeitungen des Decrets begnügen sich im Anschlusse an ältere Canones zwar schon mit dem Erfordernisse der Stimmenmehrheit bei Wahlen, aber sie schwingen sich noch keineswegs zu einer technischen Formulirung des Majoritätsprincips auf, sondern bewegen sich mehr in Einzelentscheidungen[3]. Noch vor dem Ende des 12. Jahrhunderts nahm die Lehre festere Formen an. Denn in dieser Zeit machten sich die Canonisten die Resultate der romanistischen Jurisprudenz zu eigen und verstanden es alsbald auf denselben weiter zu

bauen. Schon die Glossen zum Corpus iuris civilis stellten

    der Wahl; aber man näherte sich seit 1130 wie bei den andern kirchlichen Wahlen so auch bei der Papstwahl mehr und mehr dem Majoritätsprincip in der der Kirche eigenen Gestalt, indem auf das Stimmenverhältniss selbst weniger Gewicht gelegt wurde, als auf das Vorhandensein der sanior pars. Ueber die Einführung der eminenten Majorität vgl. unten S. 192 Note 2.

  1. Lindner, Hergang S. 9.
  2. So erwähnt uns Bresslau a. a. O. S. 134, dass bei der Wahl Clemens V., nachdem der Candidat 2/3 der Stimmen auf sich vereinigt hatte, auch die Minorität durch Access ihm zugestimmt hat, worauf dann die electio communis vorgenommen wurde. Ganz allgemein spricht Goffredus de Trano, c. 9: Nachdem das Scrutinium erfolgt war und bei der Collation der abgegebenen Stimmen ein Candidat die maior et sanior pars für sich hatte, so fragte die Majorität die Minorität, ob sie ihren Widerspruch aufgeben wolle; wenn ja, so würde die electio communis im Namen des ganzen Collegiums, sonst nur im Namen der Mehrheit vorgenommen werden. Vgl. dazu auch Guil. de Mandagotto, cap. 34 und die Decretalen c. 21 u. 31 X. I. 6, wo für die Erzielung der Einstimmigkeit unter den Compromissaren ausdrücklich der germanische Rechtsgedanke angewendet wird. – Vielleicht, dass das ganze Verfahren, das man schon im 14. Jahrhundert Access nannte, in seinen Anfängen mit der germanischen Auffassung zusammenhängt?
  3. Vgl. die Summen von Paucapalea, Rufinus und Stephan von Tournay zu den Distinctionen 62 ff.
Empfohlene Zitierweise:
Alfred von Wretschko: Der Einfluss der fremden Rechte auf die deutschen Königswahlen bis zur Goldenen Bulle. Weimar: Hermann Böhlaus Nachfolger, 1899, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_fuer_Rechtsgeschichte_Germ._Abt._Bd_20_190.JPG&oldid=- (Version vom 1.8.2018)