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Als nun die erste Tanne niedergehauen ward, vergoss sie bittere Zähren, die hernach zu Harz erstarrten. Der Schmerz der Mutter ging aber ihren Kindern, den Tannenzapfen, tief zu Herzen und sie sprachen zu ihr: Weine nicht, liebe Mutter, wir wollen es dem Menschen, der dich so erbarmungslos getötet, bös vergelten! Da verwandelten sich die Schuppen der Zapfen in Wanzen und krochen in die Häuser der Menschen, wo sie die Menschen noch heutzutage quälen und plagen.


3. Die hoffärtigen Mücken.

Einst haben Mücken zu mehreren Zehnern einen Gaul bedrängt, der friedlich im Gebüsch weidete, und wollten ihn zu Fall bringen, konnten’s aber nicht. Da riefen sie bedauernd: Ach, wären nur unser noch hundert Mann, so wollten wir den Gaul gewiss niederstrecken! – Da nun dem Gaul die Haut juckte von den Mücken, warf er sich hin, um sich zu wälzen. Wie freuten sich die Mücken jetzt, dass sie den Gaul bezwungen hatten und er vor ihnen im Staube lag! Aber o Jammer! Der Gaul am Boden hat sich etliche Male auf die eine und andere Seite geworfen und da waren alle Mücken – tot gequetscht!


der Wanze, eine eigentümlich blutige Rache. – Das Thema unserer Erzählung kehrt übrigens auch in anderen esthnischen Märchen wieder, doch mit ganz unkatholischem Motiv und Ausgang.

Wenn hier, wie in der ganzen esthnischen Archäodoxie, die Anschauung von der Unverletzlichkeit des Baumes als der Hülle eines höheren individuellen Naturwesens vorwaltet, so findet sich das Widerspiel davon in einer südslavischen Volksüberlieferung (Krauss, Märchen und Sagen der Südslawen, II, No. 92): „Einst, so erzählen die Leute, pflegten einem die Bäume von selbst aus dem Walde ins Haus zu kommen. Einst also, wer weiss wann das gewesen, mussten die Leute nicht mit Wagen und Axt in den Wald, Bäume fällen, sägen, spalten und mit schwerer Plag heimführen. Wenn jemand Holz brauchte, ging er einfach in den Wald, suchte sich eine Esche, Buche, Birke, eine Zerreiche aus, sagte bloss: Hörst du, Esche, du Weissbuche, komm mit mir zu meinem Hause, ich brauch’ dich! und der Baum folgte ihm auf der Stelle.“

Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 317. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_317.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)