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Esthnische Märchen.
Von
Harry Jannsen.
(Von den nachfolgenden drei Stücken liegt das erste im Urtext gedruckt vor, die beiden anderen sind meinen esthnischen Originalmanuskripten entnommen.)


1. Des Teufels Besuch.

Vorzeiten lebten zwei Ehepaare zusammen in einer Hütte; das eine Paar hatte drei Kinder, das andere aber keines.

Einst trug es sich zu, dass beide Ehemänner von Hause waren.

Es war Abend geworden, die Frauen sassen in der Hütte und spannen.[1] Plötzlich ward an die Thür gepocht und eine Stimme rief: Macht auf, eure Männer sind heim gekommen!

Die Frauen machten auf und herein traten zwei Männer, die waren von Ansehen und Gestalt ganz ihre Ehemänner und wurden auch von den Frauen dafür gehalten. Sie legten ihre Überkleider ab und begehrten das Essen.

Da sprach das älteste von den Kindern heimlich zur Mutter: Vater hat ja lange Krallen!

Das zweite sprach: Mutter, Mutter, er trägt auch einen Schweif!

Das jüngste sprach: Mutter, Mutter, eiserne Zähne hat er im Munde!

Die Mutter beschwichtigte die Kinder und antwortete: Seid nur fein still, Kinder, Vater geht bald zu Bett, da sollen auch die Krallen und der Schweif und die Zähne verschwinden!

Jetzt schickte sich die kinderlose Frau an, mit einem von den Fremden zur Ruhe zu gehen; die andere Frau aber hatte recht gut gemerkt, dass der Fremde nicht ihr wirklicher Mann wäre und machte sich deshalb so lange im Hause zu schaffen, bis er sich ins Bett gelegt hatte. Dann bettete sie den Kindern auf dem Ofen, stellte Wacholderzweige vor sie hin und machte darüber das Zeichen des Kreuzes.


  1. Offenbar zu verbotener Tageszeit oder an einem altesthnischen Festtage (esthnisch tähtpäew, bedeutsamer Tag), vielleicht am Donnerstag Abend, an welchem mit eingetretener Dämmerung der altesthnische, bis zum Abend des Freitag (24 Stunden) währende Feiertag begann. Da galt, wie bei den germanischen Stämmen, das Spinnen, die gewöhnlichste Frauenarbeit an profanen Tagen, als eine namentliche Verachtung des Gottes, dem zu Ehren alle Verrichtungen des wochentäglichen Lebens ruhten. Nach Sonnenuntergang soll man, wenigstens draussen auf dem Felde, überhaupt nicht mehr arbeiten; das ist die Arbeitszeit der Geister und Gespenster.
Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 314. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_314.png&oldid=- (Version vom 1.8.2018)