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Mustaphas junge Frau ist die Wahrerin des Volksglaubens. Sie schrickt entsetzt auf bei den Unheil verkündenden Kuckucksrufen; Mustapha lässt die Sache gleichgültig. Er glaubt an kein jenseitiges Leben und an keine Geistergeschichten. Auf dem gleichen Standpunkte befindet sich zwar auch Halil, doch die Erinnerung an den geliebten Wahlbruder, dessen Grab frevelhaft geschändet wird, ist bei ihm mächtiger als jede Erwägung. Nicht bloss der Toten, noch viel mehr der Überlebenden wegen muss man ein Grab in Ruhe und Frieden lassen. Der lebende Freund empfindet die Schmach, als sei sie ihm zugedacht. Darum rächt er den Toten.

Der mohammedanische Slave kennt nicht recht den Manenkult. Er glaubt nur an die Rückkehr Toter in Gestalt von Vampiren und Wehrwölfen. An Tote als Gespenster glaubt er nicht. Sehr bezeichnend für diese Auffassung ist das Wort für Gespenst: utvora d. h. Einbildung, oder sablast Halluzination. Die Erscheinung besteht nicht als greifbares Wesen, sondern nur in der krankhaft erregten Einbildung eines Menschen. Mit Eintritt des Todes zieht die Seele ihres Weges und der Körper bleibt als wertloses und unnützes Gefäss zurück. So denkt der mohammedanische Slave des Guslarenliedes. Wir haben eben den rauhen, abgehärteten Krieger im Auge, der in und nach dem Kampfe vollauf mit sich beschäftigt ist. Es scheint, dass bei den slavischen Mohammedanern der im Kampf gefallene Tote jede Schätzung einbüsst, zumal wenn die Umstände darnach sind, dass man sich mit Bestattungen nicht abgeben kann. In einem noch ungedruckten mohammedanischen Guslarenliede unserer Sammlung, welches den Raub des Klisuraers Burgfräuleins Jelkuša durch unseren Bojičić Alija zum Vorwurf hat, heisst es gegen den Schluss nach der Schilderung eines entsetzlichen Gemetzels zwischen Mohammedanern und Christen: „Die Sieger“ (die Mohammedaner) „warfen ihre Toten ins Meer, ihre Verwundeten aber nahmen sie mit sich“:

svoje mrtve u denjiz baciše
a ranjene svoje poniješe.

In dem von mir im Jahre 1885 zu Ragusa veröffentlichten grossen Guslarenliede Smailagić Meho werden nach der Schlacht mit General Peter die Toten einfach auf einen Haufen zusammengetragen. Vers 1958: i na hrpe donose šehite. Die darauf folgende, mit grimmiger Ironie gewürzte Schilderung der Bestattung (V. 2015–2022) zeugt von der argen Gemütsroheit der Helden jener Zeit:

     Soviel Genossen als von uns gefallen,
Wir trugen sie auf einen Ort zusammen,
Begruben sie in einem einz’gen Grabe.

     Wie sorgsam wir die Leutchen da begruben!
Bis zu den Knieen sieht man ihre Beine!
Bis zu den Schultern ihre weissen Arme!
Bis zu den Augen sieht man jedes Antlitz!
Ja, so begräbt im Krieg man die Gefall’nen.

Um die Toten des Gegners bekümmert sich niemand. Man lässt sie liegen, wo sie liegen „den grauen Gebirgswölfen und den schwarzen Raben

Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 273. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_273.png&oldid=- (Version vom 19.7.2023)