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wenn überhaupt zu ermitteln. Sicher ist, dass Tiergestalten schon zu Beginn neben ihm vorkommen. Der Ottergott z. B. vergass bei der Schöpfung eine Sendung an die Menschen, welche noch darunter zu leiden haben; der Hahn, welcher von dem Schöpfer auf die Erde gesandt wurde, um ihm darüber Bericht zu bringen, fand die „Menschenwelt“ so schön, dass er lange Zeit der Rückkehr vergass, und als er dann viel zu spät zurückkehrte, schleuderte ihn der Gott im Zorn auf die Erde zurück und verbot ihm den Himmel. Dies, fügen die Aino hinzu, ist der Grund, weshalb der Hahn nicht hoch fliegen kann. Bedeutungsvoller ist jedoch der Mythus vom Streit der guten und bösen Götter um die Weltherrschaft, welcher endlich durch eine Übereinkunft geschlichtet wurde, nach welcher die Partei, welche am folgenden Morgen die Sonne zuerst sähe, die Oberherrschaft haben sollte. Als nun beide Parteien nebeneinander Platz genommen, wandte sich der schlaue Fuchsgott, welcher auf Seite der guten Götter, der Lichtgötter, sich befand, nach Westen und sah hier wirklich, bevor die Sonne sich über den Horizont erhoben, die fernen Gebirge von ihren Strahlen erleuchtet. Er rief nun laut: „ich sehe die Sonne!“ und alle Götter mussten es ihm bestätigen. So kam es, dass die guten Gottheiten, die des Lichtes, die Welt regieren.

Eine Sintflutsage fehlt, wie Chamberlain (a. a. O. S. 36) ganz richtig hervorhebt, den Aino gänzlich. Was sie von bösen Wassergeistern, Mindutschi, erzählen, welche Tiere, namentlich Pferde, in Untiefen ziehen und ihre Eingeweide herausreissen, ist von geringer Bedeutung und höchst wahrscheinlicherweise neuen Ursprungs — ein Anklang an ähnliche mythisch-tierische Gespenster des japanischen Volksglaubens. Auch findet sich nur ein einziger Zug in den Sagen der Aino, welcher an die vulkanische Natur eines Teils ihrer Wohnorte erinnert, nämlich in der Sage von ihrem Hauptzivilisator Okikurumi, und selbst dieser könnte sehr wohl durch europäische Interpreten künstlich hineingelegt oder doch den Aino an die Hand gegeben sein.

Was diesen Okikurumi anlangt, dessen Name eine sichere Deutung nicht zulässt, so wird er ausdrücklich nicht als Stammvater, sondern nur als Wohlthäter der Menschheit geschildert, der ihnen vom Himmel her geschickt ward. Als er von dort herunter kam, soll die Welt noch neu, der Erdboden, unter dem Feuer brannte, noch dünn gewesen sein, so dass die Menschen nicht wagten, aus ihren Hütten zu treten, eine übrigens in sich höchst widerspruchsvolle Angabe, die einstweilen auf sich beruhen bleiben muss. Auf alle Fälle berichtet der Verlauf der Sage, dass Okikurumi die Menschen mit Fischen versorgte, die er gefangen, und sein Weib Turesch (das Wort bedeutet eine jüngere Schwester, wie sie also nach der ursprünglichen Annahme auch wohl hat sein sollen; im Laufe der Zeiten wurden in ganz Ostasien die Geschwisterehen sehr streng verpönt) brachte dieselben den Menschen, bis ein Frevler, das Verbot nicht achtend, ihr nicht nachzuforschen, sie mit Gewalt in seine Hütte zog. Jetzt verwandelte sie sich in ein Seeungeheuer und verschwand unter Donner und Blitz; die Hütte ward von einem Wetterstrahl entzündet und verbrannte. „Seitdem“, schliesst die Sage, „entzog Okikurumi dem Menschengeschlechte seine Gunst; er kehrte in den Himmel zurück und die Aino blieben von nun an arm und elend.“

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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 250. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_250.png&oldid=- (Version vom 20.11.2023)