Seite:Zeitschrift für Volkskunde I 224.png

Fertig. Dieser Text wurde zweimal anhand der Quelle korrekturgelesen. Die Schreibweise folgt dem Originaltext.

wobei sie sich nacheinander langsam beugten und wieder aufrichteten, so dass dadurch eine Art langsamer Wellenbewegung in den Kreis kam. Sie sangen dazu eine wirkliche Melodie — also etwas, was man sonst in Ostasien eigentlich nie hört — in Molltonart, welche ebenfalls sehr an den einförmigen Wellenschlag in einer ruhigen Bucht erinnerte. Zwei der von mir gehörten ähnliche, jedoch nicht einmal so effektvolle Melodien hat Kreitner in seinem Reisewerke „Im fernen Osten“ S. 316 u. 327 mitgeteilt; man ersieht aus den einfachen Noten sofort den grossen Unterschied dieser Musik von der der Japaner oder auch der Kamtschadalen, wie erstere mehrfach in den Mitteilungen der deutschen ostasiatischen Gesellschaft und letztere in der alten Stellerschen Reisebeschreibung aufgezeichnet ist.

Eine besondere Erwähnung verdient noch der Tierkultus. Auch in dieser Beziehung verhalten sich die Vorstellungen der Aino ganz anders als die der Japaner; während bei diesen die Tiere selbst als zauberhafte Wesen, als wahre Gespenster auftreten, haben die Aino eine Vorstellung von einem Bärengotte, einem Fuchsgotte u. s. w., den sie verehren, ja es scheint, dass diese Idee von einem Wesen, welches die betreffende Tiergattung geschaffen hat, sie beschirmt und zum Besten der Menschen in Bereitschaft hält, noch ausgeprägter ist als bei den nordamerikanischen Indianern, in deren Sagen bekanntermassen solche Gottheiten oder Geister eine grosse Rolle spielen. Auf diese Weise erklärt es sich nicht nur, dass die Aino die Schädel der getöteten Jagdtiere, besonders der Bären und Füchse, zu Ehren der betreffenden Gottheiten auf Stangen stecken, welche sie in der Nähe ihrer Hütten in einem eigens dazu eingehegten Raume aufstellen, sondern es fällt auch damit das rechte Licht auf ihre Bärenfeste, welche zwar bei manchen ihrer Nachbarnationen, ja sogar bei vielen nordischen Völkern im ferneren Westen bis nach Europa hinein vorkommen, nirgends aber von solcher Bedeutung sind wie bei den Aino. Sie sind mehrfach — z. B. von Scheube im 22. Hefte der Mitteilungen der deutschen ostasiatischen Gesellschaft — ausführlich beschrieben, so dass es genügt, sie hier im allgemeinen zu kennzeichnen. Ein Bärenjunges, das auf der Jagd eingefangen, gewöhnlich nachdem die alte Bärin getötet, wird bei den Ainos aufgezogen, anfangs mitunter sogar von einer Frau gesäugt, um dann, gewöhnlich aus seinem Käfig in eine mit starken Kreuzbalken verwahrte Höhle gebracht, mit Pfeilschüssen getötet oder doch kampfunfähig gemacht und in letzterem Falle endlich stranguliert zu werden. Alsdann schlachtet man es und verzehrt es unter Innehaltung gewisser Zeremonien und unter reichlichem Saketrinken, wobei man seinen Schädel um Verzeihung bittet und unter Anflehen des Bärengottes schliesslich als Trophäe aufstellt.

(Fortsetzung und Schluss folgt.)     
Empfohlene Zitierweise:
Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 224. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_224.png&oldid=- (Version vom 20.11.2023)