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Mittlerweile war die Nacht hereingebrochen und die Schlange sprach, als sie sich gesättigt hatte: „Liebes Mädchen, liebes Mädchen, trag’ mich in das Bett.“ Kaum war dies geschehen, so sprach die Schlange wieder: „Liebes Mädchen, liebes Mädchen, es ist so kalt hier im Bett, erwärme mich, du bist doch dessen eingedenk, was du mir am Strande des Meeres versprochen hast, als du meine Hilfe annahmst!?“ Als die Jungfrau an ihr Versprechen gemahnt wurde, blieb ihr nichts übrig, als dem Verlangen der Schlange nachzukommmen. Voll Entsetzen suchte sie die Schlange zu erwärmen. Diese schlief bald ein, sie selbst aber konnte vor Angst und Abscheu kein Auge schliessen.

Endlich krähte der Hahn und verkündete die Ankunft des Morgens. Indem erwachte auch die Schlange und sprach: „Liebes Mädchen, liebes Mädchen, der Morgen ist genaht, stehe auf und zünde Feuer im Ofen an, es wird kalt sein, wenn ich das Bett verlasse“. Die Jungfrau sprang voll Freude aus dem Bett und in kurzer Zeit loderte ein helles Feuer im Ofen. Sobald der Glanz des Feuers im Zimmer aufleuchtete, sprach die Schlange: „Liebes Mädchen, liebes Mädchen, nimm mich und wirf mich in das Feuer.“ Mit einem lauten Freudenschrei schleuderte das Mädchen mit aller Kraft die Schlange in die lodernde Glut; aber in demselben Augenblick erscholl ein furchtbarer Krach, der Ofen brach auseinander und vor dem erschrockenen Mädchen stand ein schöner, blühender Jüngling in kostbarer, reichgeschmückter Kleidung. Der Jüngling sprach: „Schönes Mädchen, du hast mich erlöst. Ich bin ein Prinz, welcher verzaubert war, dir danke ich meine Erlösung, fortan werde ich König sein. Mein Schloss steht mitten im Meere, ich will dich zu meiner Gemahlin erheben und du wirst fortan Königin des Meeres sein.“

Die Jungfrau folgte ihrem künftigen Gemahl freudig zur Kapelle, in welcher die Trauung sogleich vollzogen ward. Darauf forderte der junge König seine Gemahlin auf, von der Witwe und deren Tochter Abschied zu nehmen und ihm sogleich zu folgen; „denn“, sagte er, „die Witwe gönnt uns das Glück doch nicht, welches unsrer wartet, sie würde viel lieber ihre Tochter an deiner Stelle sehen, deshalb wollen wir eilen, dich ihren Nachstellungen zu entziehen.“

Nachdem die soeben Vermählte sich von der Witwe und ihrer Tochter verabschiedet hatte, ging sie mit ihrem Gemahl an den Strand des Meeres. Als sie dort waren, schlug der junge König mit einem Stabe in das Wasser; sogleich teilte sich dasselbe und ein trockener Pfad führte zum Schloss des Königs. Der König und seine schöne Gemahlin lebten fortan glücklich in dem prächtigen Schlosse mitten im Meere und nur einmal im Jahre, und zwar an dem Hochzeitstage, kommen sie an das Land mitten durch die Wogen des Meeres auf dem Pfade, welchen der Stab des Königs schafft, und beschenken die Bewohner des Landes mit kostbaren Gaben. Darauf kehren sie stets wieder zurück in ihr Schloss.

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Edmund Veckenstedt (Hrsg.): Zeitschrift für Volkskunde 1. Jahrgang. Alfred Dörffel, Leipzig 1888/89, Seite 190. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Volkskunde_I_190.png&oldid=- (Version vom 21.7.2023)