Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 3 | |
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Grundproblemen erweisen. Erne Frage, die hier von ganz besonderer Bedeutung ist, ist die namentlich seit Darwin gestellte Frage nach der Vererbung des Erworbenen. In der Leugnung dieser Möglichkeit treten zwei naturwissenschaftliche Tendenzen hervor, deren eine mehr die Psychologie der Forscher, deren andere mehr die gesellschaftliche Funktion der Forschung bezeichnet.
Man kann leicht beobachten, dass einer nicht geringen Zahl von Menschen, namentlich von Medizinern ganz verschiedener politischer Richtung, heute der Gedanke der Rassenhygiene zu einer Art von Religion geworden ist, d. h. zu einer besonderen und sehr intensiven Form des allgemeinen Fortschrittsglaubens, der sich so gem für wissenschaftlich begründet halten möchte. Ist aber die Vererbbarkeit des Erworbenen wirklich abzuweisen, so folgt daraus, dass der Menschheitsfortschritt ganz allein durch Rassenhygiene geschehen kann. Der halbbewusste Wunsch, dieser Medizinergottheit völlige Alleinherrschaft zu sichern, führt dann also zu auffallend betonter Ablehnung der Möglichkeit, durch Erziehung oder Milieugestaltung eine Änderung des Erbgutes und einen Dauerfortschritt der Menschheit zu erzielen. Bei Lenz z. B. ist dies Motiv klar. Ehenso klar ist die gesellschaftliche Funktion. Sie ist gegeben durch die Entwertung der Milieuwirkung, also die Geringwertung aller sozialen Veränderungen.
Auf der andern Seite mag die Annahme der Vererbung des Erworbenen auch nicht immer frei sein von dem ausserwissenschaftlichen Wunsch, die endogene Wandelbarkeit der Rassen zu erweisen, die allerdings durch Boas und Andere auch ohne diese Annahme gesichert erscheint. Immerhin würde die Annahme einer solchen Vererblichkeit eine gewaltige Plastizität der Rassen, Unstetigkeit der vitalen Typen, einschliessen und namentlich auf die Frage der Rassenentstehung ein neues Licht werfen. Wie die Dinge heute wissenschaftlich liegen, kann man die Vererbbarkeit des Erworbenen weder schlechtweg leugnen, noch schlechtweg behaupten. Die klassische theoretische Begrundung der Leugnung durch A. Weissmanns Trennung von Soma und Germen ist insofern überholt, als zwar die Würdigung der Keimzelle als des alleinigen Erbträgers anerkannt wird, man aber immer mehr dazu kommt, auch diese Keimzelle in Verbindung mit dem Gesamtorganismus und seinen Wandlungen zu betrachten. Nichts zwingt uns ja, bei der ganzheitlichen Betrachtung der organisehen Wandlungen vor der Keimzelle haltzumachen. Dass der abgeschnittene Mäuseschwanz und die erlernte Kenntnis der chinesischen Sprache sich nicht vererben, erscheint wahrscheinlich, ob aber Modifikationen der physio-psychischen Gesamtstruktur unvererbbar sind, ist sehr die Frage. Ein Forscher und Denker von überragender Bedeutung, Bleuler, nimmt diese Vererbbarkeit an und halt mit guten Gründen Kammerers bekannte "Brunstschwielen" für echt, führt auch andere Experimente in gleicher Richtung an. Wie sehr wir theoretisch zu solcher Annahme gedrängt sind, erhellt z. B. daraus, dass in demselben Werk, in dem Lenz den Lamarckismus und mit ihm alle Annahme einer Vererbung des Erworbenen leidenschaftlich bekämpft, E. Fischer bei seiner, übrigens sehr anfechtbaren Theorie von der Entstehung des Menschen sich zwar nicht dem Wort, aber der Sache nach durchaus entgegengesetzter Vorstellungen bedient. Auslese und Mutation reichen
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 3. Librairie Felix Alcan, Paris 1933, Seite 405. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_Jahrgang_2_Heft_3.pdf/87&oldid=- (Version vom 27.5.2022)