Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 3 | |
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Erwartungen sind ja etwas anderes als Erkenntnisse. Zumeist sind Typen umso fruchtbarer gebildet, je mehr reale Bestimmungen sie zu einer begrifflichen Einheit integrieren. Z. B. ist ein Typus "der Arbeitslose" schlecht gebildet, weil die wirklichen Individuen sehr wenig oder nichts gemeinsam haben, in deren Erkenntnis das Ziel gelegen ist. Dagegen sind schon besser, in aufsteigender Linie, Typenbegriffe wie der "europäische Arbeitslose in der kapitalistischen Gesellschaft", der "deutsche Arbeitslose der Nachkriegszeit", usw. Je genauer, desto besser, ausgenommen nur, wo es für gewisse Schlüsse auf erweiterte Überblicke ankommt. In der Psychologie ist ein Typenbegriff in der Regel umso fruchtbarer, je mehr die durch ihn herausgehobenen Strukturen innerhalb der faktischen Gesamtstruktur wirklicher Menschen bedeutsam sind. Typen sind Weisen des Hinblicks, die gewisse Züge der Realitat kenntlich machen sollen. "Der Arier" ist, ausserhalb der vergleichenden Sprachwissenschaft, ein schlecht gebildeter Typenbegriff.
Wie steht es nun mit dem Zusammenhang biologischer Typenunterschiede und sozialer Schichtung? Im Anfang der Staaten besteht ein solcher Zusammenhang deutlich. Die soziologische Schule in der Staatslehre weist auf die regelmässig auftretende Erscheinung hin, dass der Staat aus der Unterwerfung einer Stammesgemeinschaft durch eine andere entsteht: "Aus verschiedenen Menschenstämmen, so sagt Gumplowicz, entsteht der Staat, und nur aus ihnen bestehet er." Meist ist es ein wanderndes kriegerisches Volk der Hirten oder Seefahrer, das ein sesshaftes Bauernvolk überwindet und über dem fleissigen Dienervolk seinen Staat aufrichtet, wie die Normannen in England oder Russland, die Mandschus in China usw. Blut und Eroberung bezeichnen die Geburt des Staates. Von einer Höherwertigkeit des nun herrschenden Volkes kann natürlich nur insofern die Rede sein, als es eben gesiegt hat, wie die Römer über die Karthager und die kulturüberlegenen Griechen, die Germanen der Völkerwanderung über die Römer, die Tartaren über die halbe Welt, die Türken über die Armenier und alle möglichen anderen Völker. Im Fortgang der Geschichte vermischen sich biologisch wie kulturell das siegreiche und das unterworfene Volk. Ist das letztere kulturstärker, so kann es sogar Kultur und Sprache der Gesamtnation seinen Stempel aufdrücken: Enkel von Langobarden, Franken, Normannen sprechen neurömischen Laut. Es setzt nun ein Vorgang ein, dessen Resultat in der materialistischen schärfer als in der übrigen Soziologie gesehen wurde. Während die Struktur des Staates erhalten bleibt, während die Organisation einer Menschengruppe zur Unterdrückung von anderen beharrt, werden im Lauf der Jahrhunderte aus Völkern Kasten und Stände, schliesslich Klassen im modernen Sinne. Der eigentlich moderne Staat besteht in Europa etwa seit 1789, und in ihm ist nun zweifellos die beherrschende Struktur eine rein ökonomische Klassenordnung ohne jedes biologische Fundament. Biologische Unterschiede der Klassen sind nunmehr durchaus als Folge, nicht als Ursache der Verschiedenheiten ihrer Klassenlage anzusehen. Da geschieht es, wie durch eine Ironie der Geschichte, dass gerade in diesem Moment eine Ideologie auftritt, die nun nicht mehr zur Wirklichkeit passt, die freilich immerhin aus dem zähen Gedächtnis der Völker einen Teil ihrer Überzeugungskraft
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 3. Librairie Felix Alcan, Paris 1933, Seite 402. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_Jahrgang_2_Heft_3.pdf/84&oldid=- (Version vom 30.5.2022)