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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 3

psychologisch festlegen, da jedes historische Schicksal mit unabsehbarer Wirkkraft in sie einzugreifen vermag. Über nichts verbreitet sich das Literatentum aller Stufen von jeher lieber als über die unterscheidenden Charaktere der Völker, die man dann unmerklich mit dan Rassen begrifflich zusammenfliessen lässt. Der Deutsche, der Franzose, der Engländer, der Jude, der Russe sind dankbare Themen der höheren Journalistik. Zu ihr gesellt sich etwa Lenz als Vertreter wissenschaftlicher Rassenforschung mit wahrhaft überraschenden Einblicken in die russische Seele: "Die stark mongolisch gemischten Rassen sind stärker im Leiden und Erdulden als in der befreienden Tat." "Von Natur passiv... ziemlich sanft... bereit zu gehorchen". Kriegszeiten pflegen geradezu eine Inflation solcher interessanten Feststellungen zu bescheren, die den jeweiligen Hassuggestionen der Masse nachfolgen. Die meisten solcher Darstellungen sind, von ihrer Tendenz abgesehen, mit dem bekannten Reisebericht zu vergleichen, den der Mann gab, der in Paris von einem rothaarigen Kutscher gefahren wurde: "Die Franzosen sind rothaarig, etc.". Liegt ihnen eine breitere Erfahrung zugrunde, so kommt ihnen zweifellos ein Wert zu. Dieser Wert ist aber historisch, und ihre Wahrheit ist immer schon die der Vergangenheit, aus der keine sicheren Vorausbestimmungen zu entnehmen sind. Daher kommt es auch, dass nur der ein Volkswesen wirklich tiefgehend charakterisieren kann, der seine Traditionen, seine Geschichte, seine Sprache und Literatur von Grund auf kennt. Damit wird etwa der Abstand von Curtius und seiner einzigartigen Frankreichkenntnis bis herab zu den "glänzenden Formulierungen" Sieburgs bezeichnet. Die zukünftige Wesensentfaltung eines Volkes kann aber überhaupt keine Theorie erfassen und begrenzen; allenfalls kann der sie vorausahnen, der an ihrer aktiven Vorbereitung beteiligt ist. So sind es allein Männer wie Gorki gewesen, die den russischen Nationalcharakter ganz anders, nicht nur als das Klischee, sondern auch als die Kenntnis der Gelehrten erfasst haben. Sie gehörten ihm zu und setzten ihre schöpferische Kraft in seine Veränderung ein. Völkerzukunft ist stets Schöpfung. Im Namen etwa einer Wesensbestimmung des Deutschen oder des Franzosen einer neuen Richtung in den Weg zu treten, Iäuft meist auf den Versuch heraus, die Zukunft mit einer Vergangenheit zu schlagen. Dieser Versuch, meist auch noch mit Hilfe eines legendär verfälschten Bildes der Vergangenheit unternommen, ist bezeichnend für die Ideologie zukunftsfeindlicher, gesellschaftlich niedergehender Menschengruppen.

Die Tendenz zur Hypostasierung von Typen zeigt sich übrigens nicht allein in den Diskussionen der Rassenlehre, sondern stellt eine der grossen geistigen Gefahren unseres Zeitalters überhaupt dar. Die Besonnenheit eines Max Weber ist hier längst vergessen worden. Es muss daran erinnert werden: Typen kann der Psychologe und Soziologe mit Freiheit bilden, soviel er will, wenn er sich immer und restlos darüber klar ist, dass dem Typus keine besondere Realitat entspricht, sondern dass es sich um Hilfsmittel handelt, deren Wert einzig in ihrem Dienst zur Erfassung von Realitäten liegen kann. So kann ich sehr wohl nationale Typen und solche einer internationalen Schicht konstruieren, nie aber kann der Typus eine Norm für die Zukunft bieten: er hilft zur Erkenntnis des Seienden und damit wesentlich des Vergangenen. Schon Wahrnehmung haben wir nur von Vergangenem;

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 3. Librairie Felix Alcan, Paris 1933, Seite 401. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_Jahrgang_2_Heft_3.pdf/83&oldid=- (Version vom 30.5.2022)