Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 3 | |
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Dass die Wissenschaft selbst für die frühesten Zeiten keine unvermischten Urrassen kennt, erwähnten wir bereits. Die Frage verläuft in das grosse Dunkel der Vorgeschichte hinein. Alle geschichtlichen Nationen sind Einheiten des historischen Schicksals, zu dem zumeist Einheit von Kultur und Sprache, Recht und Tradition hinzutreten. Historische Erlebnisse jedenfalls stehen am Ursprung der Nationalideen, und diese Nationalideen selbst sind für den Umfang der Nation konstitutiv. Biologisch stellen die Nationen alle sehr komplizierte Mischgebilde, sogenannte Rassengemenge dar, Mischungen von Mischungen von Mischungen usw. Die Erforschung der biologischen Zusammensetzung des Deutschtums ist im letzten Jahrzehnt erfreulich gefördert worden. Den, wie mir scheinen will, glücklichsten Versuch einer vorläufigen Zusammenfassung dieser Forschungen stellt F. Kerns "Stammbaum und Artbild der Deutschen" von 1927 dar. Das Deutschtum hat drei grundverschiedene Bestandteile seiner durchgehenden biologischen Mischung, den nordischen, den darischen und den alpinen. Hier ist noch alles in den Anfängen, aber es ist klar, dass die Forschung sich in der Richtung auf immer weitere Differenzierung bewegt.
Bleibt die Frage, ob relative Reinrassigkeit, also eigentliche Wohlerhaltenheit eines älteren Vitaltypus, der natürlich auch schon aus Mischungen hervorging, besondere Werte verbürgt, etwa eine besondere kulturelle Produktivitat besitzt. Die Zurückführung der Hochkulturen auf eine einzige Rasse dürfte aussichtslos sein. Es hat eine chinesische Kultur gegeben, der wir z. B. Papier und Porzellan, leider auch die missbrauchtesten Erfindungen, nämlich Schiesspulver und Druckerkunst, zu verdanken haben. Buchstabenschrift und entscheidende Formen der Religion und Moral stammen von Semiten her. Die Aegypter, die Babylonier, die Inkas, die von Frobenius gewürdigten Negerkulturen — die Polyphonie der Kulturen ist unerschöpflich. Ernsthaft diskutabel ist die Frage nach einem kulturellen Leistungsprimat der "Norden" allenfalls für Europa, wenn wir von dem sehr komplexen Entstehungsproblem der indischen Kulturen absehen. Für Europa aber gerade hat die Forschung wahrscheinlich gemacht, dass von besonderen Rassenmischungen seine kulturellen Blütezeiten begünstigt waren. So hat z. B. Sommer die Auffassung Woltmanns berichtigt, nach der die italienische Renaissance eine Frucht reinen nordischen Blutes sein soll. Nicht in den nördlichen Stammsitzen, wo er relativ rein blieb, sondern da, wo er sich vermischte mit den Rassentypen der Mittelmeerländer oder in Süd-, Mittel- und Westdeutschland vor allem mit darischen und alpinen Typen, hat der nordische Mensch die Kulturblüte Europas getragen, also offenbar mit-getragen. Kulturell fruchtbar war gerade die Mischung der alteren Bevölkerung mit nordischen Stämmen in Griechenland und Italien, in Frankreich und Deutschland. Die Geschichte des Austauschs zwischen Okzident und Orient zeigt vollends, wie sehr lebendige Berührung der Rassen untereinander die Geschichte der europaischen Kultur günstig bestimmt hat. Um ein Beispiel zu nennen, erinnern wir an den Einfluss der arabischen Kultur auf die des hohen Mittelalters.
Im übrigen können wir weder Rassencharaktere noch Nationalcharaktere
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 3. Librairie Felix Alcan, Paris 1933, Seite 400. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_Jahrgang_2_Heft_3.pdf/82&oldid=- (Version vom 30.5.2022)