Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 3 | |
|
und ohne zu unterdrücken. Jeder würdige den Andern und lerne von ihm. So allein wächst die Wertfülle der Menschheit. Wertmonopole gibt es nicht. Gerade alle die haben so gedacht, denen, wie Lessing, Herder, Goethe, das deutschc Wesen seine gültigen Gestaltungen verdankt.
Zum zweiten angeführten Ideologiemerkmal ist zu sagen, dass es noch nicht gelungen ist, einen Faktor zu finden, dessen Unwandelbarkeit durch Milieuwirkung oder spontane Mutation auszuschliessen wäre, geschweige übrigens einen seelischcn Faktor. lm Schädelumfang glaubte man lange die grundlegende Invariante gefunden zu haben. Die Wertbezogenheit solcher Annahmen auf Verherrlichung und Interesse der "Langschädel" war klar. Im Flor des Schädelwahns schrieb Vacher de Lapouge "Es ist selbst für einen Gelehrten unwiderstehlich zu sehen, dass die Geschicke eines Menschen von zwei oder drei Millimetern mehr oder weniger Länge oder Breite seines Schädels abhängen."
Diese Blütentriiume sind nun längst erfroren. Rundschädelig, also minderwertig waren nach Weidenreichs wohlbelegter Aufzählung unter Anderen : Helmholtz, Bismarck, Erasmus, Kant, Schopenhauer, Leibniz usw. Natürlich waren ebensoviele bedeutende Leute langschädelig. Extrem langschädelig sind aber auch gerade die primitivsten Australneger. Für die Ausbildung der Gehirnzentren ist, anatomisch gesehen, Lang- oder Kurzschädeligkeit völlig gleichgültig. Merkwürdig sind die Feststellungen, durch die Ammon überrascht wurde, nach denen z. B. in mehr von Langschädeln bewohnten Gegenden Badens auch die jüdischen Rekruten relativ langschädelig sind. Die dadurch aufgeworfene Frage nach der erblichen Wandelbarkeit der Schädelform unter noch wenig erforschten Milieueinflüssen wird dann entscheidend aufgenommen von Boas und seiner Schule. 1910 und 1911 erscheinen in Washington seine Feststellungen über die "Change in bodily form of descendants of immigrants". Hier erweisen umfangreiche Untersuchungen an den amerikanischen Einwanderern und ihren Kindern, dass die verschiedenen lang- und kurzschädeligen Menschengruppen schon in den ersten beiden Generationen ihre Schädelmasse um ein Erhebliches in der Richtung auf einen mittleren Einheitstypus hin verändern. Für Boas selbst war dies Ergebnis seiner Massenmessungen überraschend. Es zeigt, wie sehr wir geneigt sind, die Wirkung von Milieu und Tradition auf den Menschen in der bewussten und überhaupt der individuellen Dimension zwar zu überschatzen, ebensosehr aber sie in der Erbdimension zu unterschätzen. Die Bedeutung dieser Dinge, insbesondere für die Probleme der Rassenentstehung und Rassenveränderung liegen auf der Hand. Nachdem auch andere Versuche, z. B. mit Hilfe der Kretschmerschen Konstitutionstypen, Invarianten zu finden, gescheitert sind, dürfte es jetzt allmählich allgemeine wissenschaftliche Anerkennung finden, dass man kein starres System menschlicher Rassen konstruieren, sondern nur im Sinne von Eickstadt eine Rassenkunde und vor allem Rassengeschichte der Menschheit geben kann. Auch das ist natürlich nur fragmentarisch möglich. Je mehr man mit den gewaltigen Aufgaben, die hier liegen, Ernst machen wird, desto mehr wird man dem Unfug der statischen Charakteristik gleichsam vom Mond gefallener Rassentypen ein Ende bereiten.
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 3. Librairie Felix Alcan, Paris 1933, Seite 399. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_Jahrgang_2_Heft_3.pdf/81&oldid=- (Version vom 30.5.2022)