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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 3

eine wiederum im Sinne Diltheys natural istische Deutungsarl am Werke- Es ist trier ein naturales und selbst eigentlich gsr nicht mehr historisches Geschehen, das von sich aus das Gesamt der Menschheitsgeschichte bestimmt.

In Wahrheit versagen sich die historischen Phänomene dieser Auflösung. Allenfalls können Bedingungen gezeigt werden, nie Ursachen. So ist z. B. die Entstehung der kapitalistischen Wirtschaftsform sicher durch die Eigenart leistungskräftiger unternehmender nordischer Rassengruppen begünstigt, vielieicht sogar ermöglicht. Dass aber diese Wirtschaftsform entstand und zu einer bestimmten Zeit entstand, ist nur in viel weiterem und namentlich auch in ökonomischem Zusammenhang verständlich zu machen. Nun gar, sagen wir, die Werke Michelangelos oder Goethes aus deren Blutsherkunft verständlich machen zu wollen, gehört zum offenbaren Unsinn. Je mehr ein Mensch sich selbst verwirklicht, desto mehr tritt in Wesen und Werk das Einzigartige und völlig Unableitbare seiner geistigen Individualität hervor. Es kann hier nicht die Diskussion der Geschichtsauffassungen zu Ende geführt oder entschieden werden, die in den Gegensätzen menschlicher Selbstauffassung und der sie entfaltenden Anthropologie letzten Endes begründet liegt. Nur das kann geschehen, dass man sich klar wird, wo eine Lehre hingehört, mit welchen andern sie sich verbindet und was ihre Konsequenzen sind. Ist es doch gerade die billige und schiefe Antithese gegen ein Zerrbild des Materialismus, mit dem die Rassenideologie einen grossen Teil ihres Erfolges bei der Jugend erzielt hat.

Schon aus dem bisher Gesagten ist zu entnehmen, dass Rasseforschung und vernunftige Überlegung die grundlegenden Fehler der Rassenideologie zu zeigen in der Lage sind. Daraus ist es wohl auch z. T. zu erklären, dass diese neuerdings, ganz im Gegensatz gegen ihre Vorgeschichte, die Tendenz zeigt, sich aller Vernunft zu entziehen und sich als "Blutsmythos" zu etablieren. Der Missbrauch des Sorelschen Mythenbegriffes kommt einem gewissen Primitivismus der Massen suggestiv entgegen. Von einer Begründung kann und soll ja hier im Reiche des Irrationalismus nicht mehr die Rede sein. Soziologisch bedeutet diese unklare Haltung Verzicht auf Wissenschaft und Vernunft. Diskutieren lässt sich mit der Willkur eines solchen Standpunktes natürlich nicht. Im übrigen entspricht der Irrationalismus der Tendenz einer Staatsmacht, auf Grund der physischen Gewalt allein zu regieren, ohne auch nur um den Schein des rationalen Rechtes sich zu kümmern. Das ist die gesellschaftliche irrationale Wirklichkeit, die dem Irrationalismus des Blutsmythos in Wahrheit zugrunde liegt. Soweit die Staatsherrschaft auf die rationale Verbrämung durch eine abstrakte Rechtsidee verzichtet, genau soweit ihre Ideologie auf die rationale Verbrämung der Wissenschaftsform. Mit den grossen Mythen der Menschheit haben die modernen Zweckmythologien nichts zu schaffen. Ihre Inhalte sind dürftig genug und restlos dem noch wissenschaftlich verkleideten Stadium der Rassenlehre entnommen. Ihre Wirkungskraft verdanken sie teils der gesellschaftlichen Situation, teils gewissen psychoanalytisch zu erforschenden Regungen des Massen-Unbewussten, denen sie Scheinbefriedigungen teils religiöser, teils weit weniger geachteter seelischer Bedürfnisse bieten.

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 3. Librairie Felix Alcan, Paris 1933, Seite 396. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_Jahrgang_2_Heft_3.pdf/78&oldid=- (Version vom 30.5.2022)