Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 3 | |
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daran sein müsse, da offenbar die Nation nicht aiis einem willkürlichen bewussten Entschluss ihrer Individuen hervorging, so kann dann die paradoxe Verwechslung stattfinden, die aller historischen Erkenntnis vom Werden und aller biologischen Erkenntnis von der Zusammensetzung der Nationen zuwiderläuft.
Es kommt auch hier wieder für die Durchschauung der gesellschaftlichen Funktion auf die Unterscheidung zweier beträchtlich verschiedener Nuancen an, die aus dieser Verwechslungstendenz hervorgehen. Die ältere Lehrart wird dargestellt von dem Bestreben, Völker oder Völkergruppen mit Rasseneinheiten gleichzusetzen. Dass ein Ernstmachen mit solchen Anschauungen jede faktische nationale Schicksalsgemeinschaft in eine Menge von Teilen zersplittern muss, ist klar. Am nachdrücklichsten hat K. F. Wolff gegenüber Günther auf diese Tatsachen hingewiesen. Das hindert deutsche Rassenideologen nicht, die Behauptung, semitische Herkunft schliesse echte Zugehörigkeit zur deutschen Nation aus, beweislos zu wiederholen und zur Grundlage ihrer Praxis zu machen. Die nähere Beschäftigung mit dem biologischen Aufbau der Nation hat diese Art der Identifizierung selbst für die modernen Rasseideologen theoretisch unmöglich gemacht. Sie konnten sich der Kenntnis von Resultaten namentlich Eugen Fischers nicht ganz entziehen und mussten sich entschliessen, sogar Ergebnisse von Fischer, Clauss, Kern und anderen zu popularisieren. Dieser Entschluss fiel ihnen umso leichter, da sich eine neue und weit fruchtbarere ideologische Verwendung gerade dieser Ergebnisse anbot.
Damit entsteht die zweite Abart der Identifizierung. Die Mischung innerhalb des eigenen Volkes wird nun wenigstens im naheliegendsten gesehen und anerkannt. Man wertet aber die Bestandteile des Volkes selber verschieden hoch, zunächst in biologischer Hinsicht und dann in einem auch an sich wieder falschen Biologismus gesamt- menschlich, und es entsteht die Tendenz, einen dieser Volksbestandteile in das Wertmonopol einzusetzen. An dieser Stelle steht die Funktion Günthers. „Aufnordung" wird zum vollklingenden Schlagwort. Der gesellschaftliche Sinn: ein Teil des Volkes ist biologisch berechtigt, über den andern zu herrschen. Der Unterschied von geborenen Herren und Knechten wird aus der zwischenvölkischen Ebene der Kolonialpolitik in die Ebene des sich zugleich international und innervolkisch darstellenden Gruppenkampfes verlegt. Die kaum noch verhüllte Identifikation insbesondere der sozialen Unterschicht mit einem im Volke selbst gegebenen Untermenschentum, der Herrenschicht und ihrer Parteiganger mit den edlen und heroischen Vertretern überlegener Rasse darf man ruhig Propagandisten überlassen. Die ganze Richtung hat jedenfalls ihr geistiges Leben, ihre Entstehungs- und Verbreitungskraft, von vornherein durch diese Möglichkeit. Dass der Kampf gegen das marxistisch organisierte Proletariat sich gut mit dem Rassenantisemitismus verbindet, der unter anderem eine Diffamierung eines Teiles seiner Lehrer und Führer ermöglicht, das liegt auf der Hand. Dass man im übrigen nicht die Arbeiterklasse an sich bekämpft, sondern ihren Anspruch auf kulturelle und wirtschaftliche Gleichstellung, ist bekannt. Ja, man unternimmt es, den Kampf gegen die Lebensansprüche des Arbeiters im Namen der Arbeiterschaft selber zu führen. Es gibt keine Wirklichkeit
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 3. Jg 1933, Heft 3. Librairie Felix Alcan, Paris 1933, Seite 392. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_Jahrgang_2_Heft_3.pdf/74&oldid=- (Version vom 16.12.2022)