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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 2

Mechanik so wichtigen Codice sul volo degli uccelli (1893) und insbesonders der mechanischen Handschriften aus dem South Kensington Museum in London (1901)[1], heute nach den bahnbrechenden Untersuchungen von P. Duhem über Leonardo[2] den Anfang der wissenschaftlichen Mechanik in die Zeit Galileis und Descartes zu setzen, heisst zumindest 50 Jahre wissenschaftlicher Forschung auf diesem Gebiete nicht berücksichtigen. "Nirgends — sagt Borkenau — sucht die Renaissance die blosse Kenntnis um der Kenntnis willen" (S. 73). Bloss die Kreissymbolik mit Gott als Attraktionszentrum interessiere sie, die Naturforschung sei nur ein Nebenprodukt dieses Standpunktes. Nur wo die Kreisform anwendbar war, wie in der Astronomie sei die Naturwissenschaft bis zur Fassung präziser Gesetze fortgeschritten; ausserhalb der Astronomie sei daher der Versuch, die Erscheinungen in mathematisch bestimmte Gesetze zu fassen, misslungen. Der Beitrag der Renaissance zu unserer modernen Naturkenntnis sei "rein naturgeschichtlich; Ansammlung eines ungeheuren, vielfach wertvollen, empirischen Materials ein empirisches Hinnehmen" (S. 72), und "eine gänzlich unmathematische Betrachtungsweise" (S. 80). In der zweiten Hälfte des 16. Jahrhunderts folge ein Aufschwung der naturbeschreibenden Wissenschaften; die Anwendung des Experiments werde gefordert, aber ohne systematische Ausführung (S. 80).

Man braucht nur die Manuskripte Leonardo da Vincis in die Hand zu nehmen, nur irgendeine Gesamtdarstellung Leonardos wissenschaftlicher Leistungen (z. B. das Buch von G. Séailles)[3] zu konsultieren, um sich zu überzeugen, dass jeder Satz der oben gegebenen Charakteristik "der" Renaissance phantastisch ist. Es steht fest, dass Leonardo sich in seinen Forschungen exakt quantitativer Methoden bediente, dass er die generelle Anwendbarkeit der Mathematik betonte. Libri, der gelehrte Historiker der mathematischen Wissenschaften in Italien, berichtet: "Léonard étudiait la mécanique et la physique avec le secours de l'algébre et de la géometrie… et appliqua cette science à la mécanique, à la perspective et à la théorie des ombres"[4]. Ebenso steht fest, dass

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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 2. Librairie Felix Alcan, Paris 1935, Seite 167. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_4_-_Heft_2.pdf/9&oldid=- (Version vom 4.1.2023)
  1. Leonard de Vinci, Problèmes de Géométrie et d'Hydraulique. Machines Hydrauliques. Application du principe de la vis d'Archimède, Pompes, Machines d'épuisement et de dragage, Paris 1901, Bd. I-III.
  2. P. Duhem, Les Origines de la Statique, Paris 1905/6, Bd. I/II; — Études sur Léonard de Vinci, Paris 1906. Bd. I/II.
  3. Léonard de Vinci, l'artiste et le savant, Paris 1906.
  4. Histoire des Sciences mathématiques en Italie, Paris 1840, Bd. III, S. 46. — Leonardo schreibt : „Qu'll ne me lise pas celui qui n'est pas mathématicien, car je le suis toujours dans mes principes." (Peladan, Léonard de Vinci, Textes choisis, Paris 1907, S. 34), und „La mechanica e il paradiso delle science matematiche perche con quella si viene al frutto matematico" (Duhem, Les Origines de la Statique, Bd. I., S. 15).