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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 2

eingeschränkt und mit Hilfe eines Syllogismus: — der Naturgesetzbegriff sei die Grundkategorie unseres Naturbildes — statt der Darstellung des Kategorienwandels in der Geschichte der Natuewissenschaften (S. 19) die Entwicklungsgeschichte des Naturbegriffs, d.h. "die Geschichte des Wortes" (S. 19) gegeben.

Die Überprüfung der Borkenauschen Konstruktion auf ihren Wirklichkeitsgehalt erscheint umso notwendiger, als sie an sich nach mannigfachen Richtungen hin eine Umwälzung der bisher geltenden Auffassungen bedeutet. Hier seien bloss einige der wichtigsten Punkte angeführt:

1. Die Annahme scheint nahezuliegen, dass die mechanistische Philosophie und die wissenschaftliche Mechanik selbst ihre mechanischen Grundbegriffe eben aus der Betrachtung der Mechanismen, der Maschinen genommen habe. Borkenau dagegen leitet die Entstehung der mechanischen Vorstellungen nicht von den Maschinen, sondern von der handwerklich zerlegten menschlichen Arbeit ab.

2. Wir waren gewohnt, die Entstehung der modernen Naturwissenschaft, also eines Komplexes von Erkenntnissen, der sowohl über exakte Forschungsmethoden verfügt, wie inhaltlich wenigstens die grundlegendsten Gesetze eines bestimmten Natursektors formuliert hat, in die zweite Hälfte des 15. Jahrhunderts zu setzen, die Anfänge der exakten Forschung aber zeitlich noch weiter zurückzuverlegen. — Borkenau negiert mehr als 150 Jahre Geschichte der Naturwissenschaft mit ihren "mit wachsender Geschwindigkeit" erfolgenden Fortschritten und setzt die Geburt der modernen Naturwissenschaften erst in die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert.

3. Die Ausarbeitung exakter naturwissenschaftlicher Methoden, die manche Forscher schon den Arabern des Mittelalters zuschreiben, also zumindest in das 12. und 13. Jahrhundert verlegen, lässt Borkenau gleichfalls erst mit der Verbreitung der manufakturellen Arbeitsteilung um die Wende vom 16. zum 17. Jahrhundert entstehen. Hier negiert er also sogar drei bis vier Jahrhunderte Entwicklung. Ehe wir die weiteren Abweichungen Borkenaus von dem bisherigen Erkenntnisstand betrachten, müssen wir auf diese Frage des Anfangs der wissenschaftlichen Mechanik näher eingehen.

Es wäre zu weitführend, hier die Anfänge und die Entwicklung der wissenschaftlichen Mechanik seit dem Ende des 15. Jahrhunderts zu geben. Es genügt nur den Namen von Leonardo da Vinci zu nennen. Heute noch, nach der Publikation des wichtigsten handschriftlichen Nachlasses von Leonardo aus der Bibliothek des Institut de France (1881-1901), des Codice Trivulziano (1891) und Codice Atlantico aus der Mailänder Ambrosiana (1894), der Windsormanuskripte (1901) und des für die theoretische

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 2. Librairie Felix Alcan, Paris 1935, Seite 166. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_4_-_Heft_2.pdf/8&oldid=- (Version vom 31.12.2022)