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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 2

II. Die Wirklichkeit der historischen Entwicklung.

Der Historiker hat von vornherein methodische Zweifel: Nimmt die Geschichte überhaupt so einen geradlinigen Verlauf, wie dies bei Borkenau erscheint? Folgen die einzelnen Etappen des Prozesses wirklich so aufeinander, dass jeweils von dem Weltbild der Scholastik, der Renaissance und der Neuzeit als eindeutigen Begriffen gesprochen werden kann? Und gibt es in der Entwicklung nicht auch Rückschläge - oft von säkularer Dauer -, die auch zu berücksichtigen und zu erklären sind? Ebenso wie hinsichtlich des zeitlichen Aufeinander aber erheben sich Zweifel hinsichtlich des räumlichen Nebeneinander: Bestehen nicht in jeder Periode, z.B. in der Scholastik, verschiedene Weltbilder nebeneinander, wodurch die Aufgabe des Forschers kompliziert wird; hat er nicht gerade auch dieses Nebeneinander zu erklären? Sind diese Weltbilder in sich nicht vielmehr so differenziert wie die jeweiligen sozialen Verhältnisse? Und weiter: Ist nicht anzunehmen, dass die Entwicklung in den einzelnen Disziplinen ganz ungleichmässig vor sich geht; die Astronomie, z. B. die Mathematik und die Mechanik in Norditalien eine höhere Entwicklungsstufe aufweisen als etwa die Anatomie und andere Disziplinen? Die eigentliche Aufgabe scheint uns gerade darin zu liegen, die konkreten Zusammenhänge zwischen den verschiedensten Teilgebieten des materiellen gesellschaftlichen Lebens und den einzelnen Wissenschaften aufzuspüren.

Wir hätten erwarten dürfen, dass Borkenau an Hand charakteristischer Beispiele aus der Geschichte der Naturwissenschaften und ihrer Einzeldisziplinen die in ihnen herrschenden Grundkategorien und deren Wandel unmittelbar an dem zu analysierenden historischen Stoff demonstrieren und erklären würde. Soll die im Buchtitel umschriebene Aufgabe erfüllt werden, den „Übergang vom feudalen zum bürgerlichen Weltbild“ zu zeigen, so müssten auf den einzelnen Gebieten der positiven Naturerkenntnis jene sozialen und geistigen Prozesse geschildert werden, durch welche das feudale Weltbild erschüttert und zugleich der Keim des modernen Weltbildes entwickelt wurde. Aber Borkenau ist in den Allgemeinheiten steckengeblieben: die leere Formel von dem zersetzenden Einfluss des hereinbrechenden Geld- und Handelskapitalismus auf die harmonische ständisch-hierarchische Feudalordnung soll Erscheinungen erklären, die nur durch näheres Eingehen auf verwickelte Tatsachenkomplexe des materiellen Lebens verständlich gemacht werden können! In dem richtigen Gefühl, dass mit einer solchen Formel als methodischem Instrument der Analyse die gestellte Aufgabe nicht lösbar ist, wird sie von Borkenau tatsächlich

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 2. Librairie Felix Alcan, Paris 1935, Seite 165. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_4_-_Heft_2.pdf/7&oldid=- (Version vom 14.1.2023)