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Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 2

das Naturbild zusammenhalten. Alle Erfahrung selbst unterliege der Formung durch historisch wechselnde Kategorien : „welche Erfahrung überhaupt gesucht und aufgenommen wird, was jeweils als evident, als empirisch oder als unsinnig erscheint, hängt von den dominierenden Kategorien ab“. Die Arbeit stellt sich daher die Aufgabe, eben die geschichtliche Wandlung dieser Grundkategorien in Bezug auf die Naturwissenschaften aufzuzeigen und „ihren Zusammenhang mit dem sozialen Leben verständlich zu machen“ (S. 15). Was ihm vorschwebt, ist die Darstellung des Prozesses der Verdinglichung des Bewusstseins, die in dem einleitenden Teil des Buches (S. 15-96) geschildert wird. Er führt von der Hochscholastik über die Spätrenaissance und Francis Bacon bis an die Schwelle der Descartes’schen Philosophie — dem Hauptthema des Buches. Für den Beginn dieser Entwicklung, mit Thomas v. Aquin als Ausgangspunkt, wird die Priorität der sozialen Sphäre ausdrücklich ausgesprochen. Das Naturgesetz wird an der „natürlichen“, d. h. ständischen Ordnung der Gesellschaft mit ihrer hierarchischen Abstufung orientiert, und die Welt wird analog als eine harmonische Ordnung der Teile durch ihre finale Bezogenheit auf Gott verstanden. Da die ganze Natur für die Gesellschaft besteht und diese ein harmonisch geordneter Kosmos ruhender Ordnungen ist und sein soll, so ist nach B. der Naturgesetzbegriff „der“ Scholastik statisch : „Das thomistische System schliesst die moderne Dynamik und die ganze auf ihr beruhende moderne Naturwissenschaft aus“ (S. 34).

Mit dem Zersetzungsprozess des Feudalismus infolge des Eindringens der Geldwirtschaft und des Kapitalismus wird die optimistisch-harmonische Auffassung des Universums in der thomistischen Lehre durch die pessimistische Lehre von der Trennung und vom Antagonismus der vernünftigen Triebe und des Naturgesetzes ersetzt. Es folgt eine schrittweise Umwandlung des Naturgesetz-Begriffes und die Umkehrung der Rangordnung zwischen Naturgesetz und menschlichem Gesetz. In der Renaissance wird das Menschenschicksal als Zufall, als Spielball eines undurchschaubaren äusseren Fatums aufgefasst. Indes auch in dieser bösen Welt wird das Wirken Gottes durch den Hinweis auf die harmonisch geordnete Natur ersichtlich. Die Natur, die in der klassischen Scholastik die unterste Stufe im göttlichen Weltplan hatte, bekommt eine höhere Ordnung, und die menschliche Gesellschaft soll erst aus der Naturerkenntnis verstanden und — gerechtfertigt werden. Die Umkehrung der Rangordnung ist vollendet.

Im Gegensatz zur Scholastik stelle sich zwar die Renaissance die Aufgabe der konkreten Naturforschung. Aber nicht die Naturerkenntnis an sich — die Erkenntnis des kausalen Zusammenhanges der Teile der Natur unter Anwendung quantitativer Messungsmethoden — interessiere die Renaissance, sondern die „Deutung der gesamten konkreten Welt in einem, als ein System harmonischer Masse“ (S. 65). In dem scheinbar regellosen Ablauf soll die mathematische Proportion des Weltganzen gezeigt werden ; und nur von diesem Standpunkt sind alle Teile der Natur wichtig und die konkrete Naturforschung bedeutsam.

Dieses Verhalten der Renaissance zur Naturforschung sei begreiflich.

Empfohlene Zitierweise:
Max Horkheimer (Hrsg.): Zeitschrift für Sozialforschung, 4. Jg 1935, Heft 2. Librairie Felix Alcan, Paris 1935, Seite 162. Digitale Volltext-Ausgabe bei Wikisource, URL: https://de.wikisource.org/w/index.php?title=Seite:Zeitschrift_f%C3%BCr_Sozialforschung_-_Jahrgang_4_-_Heft_2.pdf/4&oldid=- (Version vom 14.1.2023)